LOADING

Type to search

Coming of Age: Frauenfiguren werden erwachsen Popkultur unter der Lupe

Nie wieder Opfer: das „Coming of Age“ von Sansa Stark in AsoIaF – Teil 2

Nachdem Sansa Stark auf der Eyrie angekommen ist, beginnt für sie ein wichtiger Prozess des Erwachsenwerdens. Littlefinger hilft ihr, sich von ihrer Opferrolle zu befreien. Gleichzeitig birgt die seltsame Vater-Tochter-Beziehung zwischen ihr und ihrem Mentor neue Gefahren. Ihr erstes Zusammentreffen mit Harrold Hardyng zeigt schließlich, wie weit sich Sansa von der verträumten, verzogenen Göre weg entwickelt hat. Achtung, lest zuerst Teil 1 meiner Analyse zum Coming of Age von Sansa Stark!

Sansa Stark als Alayne Stone: Das neue Spiel

Auf der„Eyrie“, dem Stammsitz der Arryns, ist Sansa nur noch die Bastard-Tochter Alayne Stone. Schon wieder muss sie ihre Identität verleugnen. Um ihre auffälligen roten Haare zu verstecken, färbt sie sie sich dunkelbraun. Sansa fühlt sich leer und entwurzelt. Ein Spaziergang im Garten der Burg beim ersten Schneefall soll sie an ihre verlorene Heimat erinnern.

„She could feel the snow on her lashes, taste it on her lips. It was the taste of Winterfell. […] Dawn, she thought. Another day. Another new day. It was the old days she hungered for. Prayed for. But who could she pray to? The garden had been meant for a godswood once, she knew, but the soil was too thin and stony for a weirwood to take root. A godswood without gods, as empty as me.“ (A Storm of Swords, S. 1100).

Sie beginnt, eine Nachbildung von Winterfell aus Schnee zu bauen. Littlefinger kommt dazu und hilft ihr mit großer Geschicklichkeit. Auf symbolischer Ebene hilft er ihr dadurch auch dabei, ihre Orientierungslosigkeit zu mildern, indem er ihr Zuhause wieder auferstehen lässt. In Wirklichkeit wurde der Stammsitz der Starks von den Boltons niedergebrannt. So beginnt Sansa, aus der Opferrolle auszubrechen. Ich finde, auch Littlefingers darauf folgende Avancen tragen diesmal nicht dazu bei, Sansa zu erniedrigen und zum schwachen Opfer eines Mannes zu machen: „Sansa tried to step back, but he pulled her into his arms and suddenly was kissing her. Feebly, she tried to squirm, but only succeeded in pressing herself more tightly against him. […] For half a heartbeat she yielded to his kiss … before she turned her face away and wrenched free.“ (S. 1104). Littlefinger gibt offen zu, sie zu begehren, obwohl sie eigentlich seine Schutzbefohlene ist – aber Sansa trifft selbst die Entscheidung, seinem Drängen nicht nachzugeben. Immerhin scheint Littlefinger sie für ihre Person zu mögen, nicht für ihren Anspruch auf das Haus Stark. Littlefinger ist zu undurchsichtig, seine Absichten nie völlig klar. Reine Verliebtheit können nicht der Grund sein, dass er Sansa aus den Fängen des Throns befreit hat. Seine Skrupellosigkeit steht außer Frage (kurz darauf stößt er Lady Lysa durch die „moon door“ in den Tod), die platte Rolle des Ritters in glänzender Rüstung, der seine Angebetete rettet, würde außerdem dem komplexen Charakter Littlefingers nicht gerecht.Trotzdem scheint er Anteilnahme an Sansas Person zu nehmen und wird zu ihrem Vertrauten und Lehrer. Inwieweit Sansas Vertrauen in Littlefinger gerechtfertigt ist, wurde bisher noch nicht klar. Dass er am Komplott zum Sturz ihres Vaters beteiligt war, weiß Sansa ja noch gar nicht! Ich bin sehr gespannt, ob sie es herausfindet.

Illustration Alayne Stone

Das erste, was Littlefinger Sansa lehrt, ist, überzeugend zu lügen. Lord Nestor Royce, einer der Freier Lysas, möchte wissen, was mit seiner Dienstherrin passiert ist. Littlefinger hat seine Ehefrau in den Abgrund gestoßen, nachdem diese dasselbe mit ihrer Nichte Sansa vorhatte. Der Sänger Marillion wurde des Mordes beschuldigt. Genau diese Geschichte soll Sansa vor Lord Royce bestätigen. Sansa ist traumatisiert von dem Tod ihrer Tante (die sie zuvor noch wüst beschimpft hat) und würde diese Pflicht lieber Littlefinger überlassen. Dieser aber, völlig selbstsicher, ermuntert seinen Zögling, seine Angst und Verletzlichkeit einzusetzen, um den Lord zu rühren und so von der Richtigkeit seiner Aussage zu überzeugen: „,A touch of fear will not be out of place, Alayne. You’ve seen a fearful thing. Nestor will be moved. […] We shall serve him lies and Arbor Gold, and he’ll drink them down and ask for more, I promise you.ʻ“ (A Feast for Crows, S. 209-210.) Sansa beschließt, sich zusammenzureißen und für ihre eigene und Littlefingers Sicherheit zu lügen: „Some lies you had to tell. Lies had been all that kept her alive in King’s Landing.“ (ebd., S. 211.) Doch sie lässt sich jetzt nicht mehr so leicht von Littlefingers Selbstsicherheit täuschen: „He is serving me lies as well, Sansa realized. They were comforting lies, though, and she thought them kindly meant.“ (ebd., S. 209-210.) Sansa erkennt jetzt immerhin, wenn sie belogen wird. Außerdem weiß sie jetzt, was es bedeutet, für jemanden zu lügen, den man beschützen möchte, ein weiterer Schritt in Richtung Erwachsenwerden. In ihrer neuen „Mutterrolle“ für den kleinen verzogenen Robert Arryn, Lysas Sohn (der wie eine Klette an Sansa hängt) wendet sie die gleichen beruhigenden Beschönigungen an, die Littlefinger bei ihr verwendet. (Vgl. ebd., S. 214)

Sansa ist hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Misstrauen für ihren Mentor:

Petyr saved me. He loved my mother well, and … And her? How could she doubt it? He had saved her. He saved Alayne, his daughter, a voice within her whispered. But she was Sansa, too … and sometimes it seemed to her that the Lord Protector was two people as well.“ (ebd., S. 210)

Die Erkenntnis über ihre eigene Zwiegespaltenheit und die ihres Retters zeigt, dass Sansa jetzt endgültig ihre naiven Schwarz-Weiß-Vorstellungen von tapferen Rittern und unschuldigen Maiden aufgegeben hat und erwachsen geworden ist. Das wahre Leben ist komplexer als in romantischen Sagen, und sie beginnt nun, sich daran abzuarbeiten. Ihr wird klar, dass Littlefinger eigentlich nicht ihr Freund sein kann: Tyrion verteidigte sie vor Joffrey, der Hound rettete sie aus dem wütenden Mob – und was hat Littlefinger für sie getan?

„Littlefinger never lifted so much as his little finger for her. – Except to get me out. He did that for me. I thought it was Ser Dontos […] but it was Petyr all the while. Littlefinger was only a mask he had to wear. Only sometimes Sansa found it hard to tell where the man ended and the mask began.“ (ebd.)

Sie kann sich Littlefingers Loyalität nie sicher sein. Aber genauso entdeckt sie, praktisch nach dem Vorbild Littlefingers, die verschiedenen Rollen, die sie selbst einnehmen kann: Alayne, Littlefingers willige Schülerin, behütet und sicher bei ihrem „Vater“, oder Lady Sansa, deren Anspruch auf das Haus Stark sie überall zu einem Opfer macht und die nie schnell genug vor der Krone fliehen kann. Die Erkenntnis, dass sie willentlich aus der Opferrolle von Sansa Stark heraustreten kann, bedeutet den Beginn eines Emanzipationsprozesses für sie.

Littlefinger zeigt Sansa in den folgenden Passagen, wie man den Charakter seiner Gegner erkennt und ihre Schwächen gegen sie einsetzt. „,Everyone wants something, Alayne. And when you know what a man wants you know who he is und how to move him.ʻ“ (A Storm of Swords, S. 933) Lord Nestor Royce zieht er auf seine Seite, indem er seinem Stolz schmeichelt und ihm zugleich klar macht, dass er ohne ihn, Littlefinger, jeden Machtanspruch in den Wind schreiben kann.

„[Sansa:] ,The signature … you might have had Lord Robert put his hand and seal to it, but instead …ʻ
, … I signed myself, as Lord Protector. Why?ʻ
,So … if you are removed, or … or killed…ʻ
, …Lord Nestor’s claim to the Gates will suddenly be called into question. I promise you, that is not lost on him. It was clever of you to see it. Though no more than I’d expected of mine own daughter.ʻ
,Thank you.ʻ She felt absurdly proud for puzzling it out, but confused as well.“ (ebd., S. 223)

In diesem herrlichen Dialog bekommt Sansa zum ersten Mal einen größeren Einblick in Littlefingers Denkweise, und mehr noch, er macht sie zu seiner Komplizin. Wie bereits gesagt: Littlefinger sorgt dafür, dass sie langsam, aber sicher ihre Opferrolle hinter sich lässt. Sie versucht sogar, ihrem „Idol“ nachzueifern. Als die „Lords Declarant“, Lords aus dem Vale, die die Regentschaft Littlefingers anfechten wollen, zur Verhandlung auf die Eyrie kommen, versucht Sansa, alle Lehren ihres Mentors zu befolgen. Sie kleidet sich absichtlich bescheiden, um nicht aufzufallen. Sie möchte jetzt auch das „game of thrones“ spielen: Ihre Gegner beobachten und ihre Schwächen studieren. Sie kann sogar schon fast das gleiche Pokerface aufsetzen wie Petyr Baelish. „Feeling near as bold as Petyr Baelish, Alayne Stone donned her smile and went down to meet their guests“. (ebd., S. 479.) Foto Alayne in "A Feast for Crows"Sie geht jetzt völlig auf in der Rolle der Alayne Stone, die nichts mehr mit der schwachen Sansa zu tun hat und willig alles aufsaugt, was ihr „Vater“ ihr beibringt. In diesem Kapitel wird sie sogar die ganze Zeit von der Erzählinstanz als „Alayne“ bezeichnet. Bei der Verhandlung der Lords mit Littlefinger ist Sansa dabei, zu unwichtig, um von den Gästen überhaupt bemerkt zu werden, aber sie kann jedes Wort mithören und von der Politik ihres „Vaters“ lernen. Wie zu erwarten, spielt Littlefinger die Lords Declarant gegeneinander aus und erreicht einen Waffenstillstand mit seinen Feinden. „He bewitched them, Alayne thought as she lay abed that night […]“, doch wie so oft, mischt sich Misstrauen in Sansas Urteil über Littlefinger, eine Unsicherheit über seinen Charakter, die sie reizt und gleichzeitig ängstigt: „She could not sleep. She tossed and turned, worrying at [her suspicion] like a dog at some old bone.“ (ebd., S. 489) Und Sansa hat recht: der Waffenstillstand war nur eine Farce, Littlefinger hat seine Feinde längst durch Erpressung in seiner Hand, ohne dass diese untereinander davon wissen.

Kurz danach verlässt Littlefinger für Geschäftsreisen die Eyrie. Sansa bleibt einsam zurück. Sie fühlt sich lebendig begraben: „She could not love this place, no matter how she tried. [T]he castle […] seemed as empty as a tomb, and more so when Petyr Baelish was away. No one sang up there, not since Marillion. No one ever laughed too loud. Even the gods were silent.“ („A Feast for Crows“, S. 873).

Selbst der Name des Schlosses ist sprechend: „Eyrie“ hat dieselbe Aussprache wie das Adjektiv „eerie“, was unheimlich, gespenstisch bedeutet. Das Schloss, ganz aus weißem Stein gebaut, steht völlig allein auf dem Berggipfel und ist fast ganz entvölkert, als Sansa dort eintrifft. Fast alle Höflinge, Soldaten und Dienstboten sind schon ins Tal zurückgekehrt zur Überwinterung. Die Eyrie ist nur im Sommer bewohnbar. Im letzten Sansa-Kapitel von A Feast for Crows tritt Sansa zusammen mit dem widerwilligen Lord Robert und den letzten Schlossbewohnern den gefährlichen Abstieg ins Tal an, der nur mit Maultieren bewerkstelligt werden kann. Sansa hat Angst, die Sicherheit der Eyrie zu verlassen (so einsam es dort auch ist) und sich der Gefahr auszusetzen, als Tochter von Eddard Stark erkannt und der Krone ausgeliefert zu werden. Aber Littlefinger hat schon eine Zukunftsperspektive für seine „Tochter“ parat. Seine Heiratspläne für Sansa gehören zu seinen genialsten Schachzügen: Sansa soll Harrold Hardyng heiraten, „Harry the Heir“, wie er im Vale genannt wird. Er ist nämlich der Erbe des kleinen Lord Robert. Würde Sansa ihn heiraten und Lord Robert sterben, wäre sie die Lady des Vale und hätte genug Streitkräfte, um Winterfell zurück zu erobern. So macht ihr Littlefinger also nicht nur einen Ehemann und einen großen alten Stammsitz zum Geschenk, sondern auch noch ihre verlorene Heimat. Es gilt „nur“ noch, den jungen Ser Harrold von Sansa zu überzeugen.

Sansa trifft auf „Harry the Heir“

Achtung, Spoiler! Jetzt gehe ich auf das inoffiziell veröffentlichte Sansa-Kapitel von The Winds of Winter aus George R.R. Martins Blog ein: http://web.archive.org/web/20160416071920/http://www.georgerrmartin.com/excerpt-from-the-winds-of-winter/

George R. R. Martin scheint Jane Austen gut rezipiert zu haben – vielen Leserinnen und Lesern werden bei der Lektüre dieses Kapitels unweigerlich einige Parallelen zu Austens Roman „Pride and Prejudice“ auffallen. Das trifft vor allem auf die Figur des Harrold Hardyng zu, einem „Mr. Darcy“ par excéllence. Martin bediente sich hier einem bekannten narrativen Schachzug aus der populären Frauenliteratur: Stolzer, arroganter Mann trifft auf schüchterne Frau, der er sich überlegen fühlt, bis ihm klar wird, dass er sie unterschätzt hat. Spannung entsteht durch den Triumph des „Mauerblümchens“ über den „Bad Boy“, der seinen Stolz aufgibt und ihr die ewige Treue schwört. Ich verzeihe Martin diese etwas platte Anleihe gerne, weil Ser Harry trotzdem so überhaupt nicht zum „Märchenprinzen“ glorifiziert wird – weder von der Erzählinstanz, noch von Sansa selbst. Und das ist das Wunderbare an diesem Kapitel!

Aber alles der Reihe nach. Vor dem Zusammentreffen von Sansa und Harry erfährt der Leser noch einiges Neues über Sansas „Coming of Age“. Was sofort auffällt, ist der neue, unbeschwerte Ton in diesem Kapitel. Auch dieser erinnert an die Romane von Jane Austen. Auf der Eyrie fühlte sich Sansa immer lebendig begraben.Wie anders ist dagegen das Leben im „Vale“! Das Kapitel spielt auf der Burg von Lord Nestor Royce, inmitten von fröhlichem, geschäftigem Leben am Hofe eines Lords:„Outside the window she could hear the laughter of the washerwomen at the well, the din of steel on steel from the ward where the knights were at their drills. Good sounds.“ Sansa fasst wieder neuen Lebensmut: „She felt alive again, for the first [time] since her father… since Lord Eddard Stark had died.“ Ihr neues Selbstbewusstsein wird in vielen Kleinigkeiten deutlich. Sie spricht flüssiger und selbstbewusster. Ich habe bereits an vielen Zitaten von Sansas wörtlicher Rede gezeigt, wie unsicher ihre Art zu sprechen war, zum Beispiel mit dem Hound, immer zögerlich und von Pausen unterbrochen. Jetzt bietet sie zum Beispiel den Wutausbrüchen des verzogenen Lord Robert die Stirn. Dieser ist nämlich eifersüchtig, dass „Alayne“ sich mit Harrold Hardyng verloben soll. Und wenn er Alayne als Bastard-Mädchen schon nicht heiraten könne, dann solle sie später wenigstens seine Mätresse werden, Hauptsache, kein anderer Mann bekomme sie. Sansa ist mit ihrer Geduld am Ende und weist den Jungen in seine Schranken: „,Is that what you would have from me? A bastard?ʻ She pulled her fingers from his grasp. ,Would you dishonor me that way?ʻ“

Sie hat jetzt keine Lust mehr, hilflos den Launen anderer Menschen ausgesetzt zu sein. Stattdessen nimmt sie ihr Schicksal selbst in die Hand. Sie hat die Idee, für Lord Robert eine Art Kingsguard einzurichten, angelehnt an den Gründungsmythos des Hauses Arryn die „Brotherhood of the Winged Knights“ genannt. Alle jungen adeligen Männer des Vale werden eingeladen, bei einem Turnier ihre Kräfte aneinander zu messen und so acht Gewinner festzustellen, die die „Brotherhood“ bilden sollen. Acht Beschützer sollen den kleinen Robert mutig machen – und das Turnier soll vor allem den stolzen Harry Hardyng zu Sansa locken. „The tourney, the prizes, the winged knights, it had all been her own notion.“ Sie beweist psychologisches Kalkül, sogar Petyr Baelish erkennt das an: „, They’re young, eager, hungry for adventure and renown. Lysa would not let them go to war. This is the next best thing. […] They will come. Even Harry the Heir. […] What a clever daughter you are.ʻ“

Wir sehen also: Sansa sieht sich nicht mehr als das Burgfäulein, das in seinem Turm auf den starken Ritter wartet. Der Ritter hat jetzt zu erscheinen, wann sie es möchte. Sansa ist nervös, ihren Verlobten kennen zu lernen, stellt sich aber jetzt keine großartige Begegnung mit Liebe auf den ersten Blick mehr vor.

Denn wenn Sansa in der Rolle der Alayne Stone eines gelernt hat, dann, dass Männer nur vor den adeligen Jungfrauen so bescheiden und sittsam tun. Als vermeintliches Bastard-Mädchen sieht sich Sansa ständig den frechen Avancen von Männern jedes Alters und Standes ausgesetzt. Marillion hätte sie bei der Hochzeitsfeier von Littlefinger und Lysa beinahe vergewaltigt. Er meinte, ein leichtes Spiel mit ihr zu haben: „My blood is stirred. And yours, I know … there’s no wench half so lusty as one bastard born. Are you wet for me?“ (A Storm of Swords, S. 941). Später, auf der Eyrie, machen die „Lords Declarant“ anzügliche Bemerkungen über sie, als Sansa sie in Littlefingers Namen empfängt: „,[She’s] not deflowerd, one can hope.ʻ Young Lord Hunter’s bushy mustache hid his mouth entirely. – ,Yetʻ, said Lyn Corbray, as if she were not there. ,But ripe for plucking soon, I’d say.ʻ“ („A Feast for Crows“, S. 481)

Mit der Ritterlichkeit ist es also auch bei Rittern nicht weit her. Männer scheinen vor allem ihren Spaß mit Frauen haben zu wollen, während Ehen aus politischem Kalkül geschlossen werden. Sansa hat deshalb auch alle naiven Vorstellungen von einer Liebesheirat aufgegeben. Bei der ersten Begegnung mit Ser Harry betet sie im Stillen: „Please, he doesn’t need to love me, just make him like me, just a little, that would be enough for now.“ Die kleine Sansa wartet jetzt nicht mehr auf ihren strahlenden Helden. Ein wenig menschliche Zuneigung ist alles, was sie noch von ihrem zukünftigen Ehemann erwartet.

Ser Harry ist indessen – herrlich! – das genaue Abbild eines Emporkömmlings: Jung, durchaus gut aussehend, aber stolz und anmaßend. Er stammt aus dem niederen Adel und ist nur über die mütterliche Seite mit den Arryns verwandt – die Tatsache aber, dass er den kränklichen Jungen Lord Robert eines Tages beerben wird, hat ihn arrogant gemacht. „Ser Harrold Hardyng looked every inch a lord-in-waiting; clean-limbed and handsome, straight as a lance, hard with muscle.“ Er lässt es sich nicht nehmen, das Wappen der Arryns auf seinem Schild zu tragen, um alle daran zu erinnern, mit wem er verwandt ist: „The arms of Hardyng and Waynwood were displayed in the first and third quarters [of his shield], respectively, but in the second and fourth quarters he bore the moon-and-falcon of House Arryn, sky blue and cream.“ Um seine Hochmütigkeit noch zu unterstreichen, werden seine Augen als „pale blue“ (also kalt) beschrieben, seine Nase als „aquiline“, gebogen. Man kann sich förmlich vorstellen, wie er an an dieser Adlernase entlang auf seine Mitmenschen hinab sieht.

Sansa versucht mit allen Mitteln, ihrem Verlobten zu gefallen, schließlich hängt traurigerweise ihre ganze Zukunft von diesem jungen Ritter ab, („Don’t stare at him, she reminded herself, don’t stare, don’t gape, don’t gawk. Look away.“) und sagt freundlich lächelnd: „If it please you, I will show you to your chambers myself.“. Worauf Ser Harry, Mr. Darcy lässt grüßen, völlig gefühlskalt entgegnet: „Why should it please me to be escorted anywhere by Littlefinger’s bastard?ʻ“ Diese Beleidigung mitten ins Gesicht einer Frau erinnert schon sehr an den Helden von „Pride and Prejudice“. Ser Harry scheint von dem Verlobungsvertrag zu wissen und so klar machen zu wollen, dass er gar nichts von seiner Zukünftigen hält.

Aber Sansa ist großartigerweise nicht mehr auf den Mund gefallen: „, As you wish, ser. And now if you will excuse me, Littlefinger’s bastard must find her lord father and let him know that you have come, so we can begin the tourney on the morrow.ʻ“ Und im Nachsatz denkt sie sich: „, And may your horse stumble, Harry the Heir, so you fall on your stupid head in your first tilt.ʻIch habe Sansa innerlich zugejubelt, als ich diese Stelle gelesen habe. Yes! Endlich hat sie ihren eigenen Stolz wiedergefunden, lässt sich nicht mehr herumschubsen! Sie hat gelernt, ihre Unsicherheit zu verstecken.

Sansa sucht daraufhin ihren „Vater“, um ihm von der Ankunft ihres Verlobten zu berichten. In ihrem gekränkten Stolz sucht sie Rat bei ihrem Mentor. Sie beklagt sich über Ser Harrys Grausamkeit, sie vor dem versammelten Volk im Burghof zu beleidigen, und Petyr legt tröstend einen Arm um sie: „,He does not trust you, and he thinks you’re beneath him. […] Bringing Harry here was the first step in our plan, but now we need to keep him, and only you can do that. He has a weakness for a pretty face, and whose face is prettier than yours? Charm him. Entrance him. Bewitch him.ʻAls Sansa mürrisch antwortet, sie wisse nicht, wie, gibt Littlefinger zurück, auf dem abendlichen Ball böte sich für sie eine einmalige Chance: „,Smile at the boy. Touch him when you speak. Tease him, to pique his pride.ʻ“ All diese Ratschläge gibt er ihr mit einem „smile that did not reach his eyes“. Es scheint, als sei es ihm gar nicht recht, dass Sansa sich aufmachen muss, einen anderen Mann zu verführen. Aber er stellt das politische Kalkül über sein persönliches Interesse an seiner Ziehtochter. Sansa ist indessen noch nicht überzeugt, dass Harry sie auf dem Ball überhaupt beachten wird, aber Littlefinger macht ihr Mut: „,You will be the most beautiful woman in the hall tonight, as lovely as your lady mother at your age. […]The fire will be shining in your hair, so everyone will see how fair of face you are. […] The night belongs to you, sweetling, Remember that, always.ʻ“ An Littlefingers zärtlichem Trost bleibt aber etwas Bitteres zurück. Welches Interesse hat Littlefinger wirklich an Sansa? Will er einfach nur die Romanze nachholen, die ihm mit ihrer Mutter versagt blieb? Er sorgt für seine „Tochter“ und vermittelt ihr eine glänzende Heiratspartie, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er es darauf anlegt, Sansa endgültig abhängig von ihm zu machen, sowohl politisch als auch psychisch.

Beim Ball am Abend kommt es, wie von Littlefinger vorausgesagt: Die jungen Lords und Ritter stehen Schlange, um mit Sansa zu tanzen. Schließlich überwindet sich auch Ser Harry und fordert Sansa zum Tanz auf: „And there he stood, Harry the Heir himself; tall, handsome, scowling. ,Lady Alayne. May I partner you in this dance?ʻ“ Seine Beschreibung als „tall, handsome, scowling“ (finster blickend) erweist wieder eindeutig Jane Austens beliebtestem Romanheld Reverenz. Aber dieser kurze Ausflug in den Kitsch sei der Erzählinstanz gegönnt! Denn Ser Harry stellt sich kurz darauf als das genaue Gegenteil eines Märchenprinzen heraus.

Sansa lässt ihn zuerst zappeln, denn die Beleidigung ist noch frisch in ihrem Gedächtnis. Außerdem hatte Littlefinger ihr geraten, nicht zu übereifrig zu erscheinen. Ser Harry bringt es sogar über sich, sich zu entschuldigen, Sansa muss also deutlichen Eindruck auf ihn gemacht haben: „,I was unforgiveably rude to you in the yard. You must forgive me.ʻ – ,Must?ʻ She tossed her hair, took a sip of wine, made him wait. ,How can you forgive someone who is unforgiveably rude? Will you explain that to me, ser?ʻ“ Sie ist weiterhin wütend auf ihn, will ihr Vorhaben aber durchziehen und den jungen Ritter für sich einnehmen. Sie stimmt dem Tanz zu. Anstatt ihrem Tanzpartner aber Komplimente zu machen – denn sie geht davon aus, dass er diese schon zur Genüge gehört hat – fordert Sansa Ser Harry heraus. Sie stellt ihm eine ganz und gar ungewöhnliche Frage: „,I have heard that you are about to be a father.ʻ It was not something most girls would say to their almost-betrothed, but she wanted to see if Ser Harrold would lie.“ Ser Harrys Ruf ist ihm schon längst vorausgeeilt: Der junge Mann ist als Schürzenjäger bekannt und hat bereits von zwei verschiedenen Frauen ein Bastard-Kind. (Dabei sollte er nicht älter als 18 sein, sein junges Alter wird immer wieder angedeutet, z.B. als Ser Lothor Brune ihn als „upjumped squire“ bezeichnet.) Ser Harrys Figur wird damit von Anfang an entzaubert. Zu welcher romantischen Frauenliteratur passen schon uneheliche Kinder des Helden? Ser Harry ist außerdem kein stolzer Ritter, dem man seine Arroganz vielleicht noch aufgrund seiner moralischen Überlegenheit verzeihen könnte (wie bei Mr. Darcy). Er ist einfach nur ein arroganter Fatzke. Und Sansa lässt ihn mit ihrer Unverblümtheit auflaufen. Andere feine Damen würden über seine moralischen Fehltritte höflich hinwegsehen. Sansa zwingt ihn dazu, Farbe zu bekennen.

Ser Harry streitet seine Vaterschaft nicht ab, spricht indessen aber mit unglaublicher Respektlosigkeit über seine Liebschaften: „,Cissy was a pretty thing when I tumbled her, but childbirth left her as fat as a cow, so Lady Anya arranged for her to marry one of her men-at-arms.ʻ“ Lothor Brunes Nickname für Ser Harry, „Harry the Arse“, scheint mehr als angebracht. Sansa macht sich über den Namen seiner aktuellen Liebschaft, einer Händlers-Tochter namens „Saffron“, lustig. Woraufhin Ser Harry es eilig hat, Sansa in die Schranken zu weisen und die Schönheit von Saffron zu preisen. Ein kindischer Versuch, seine Überlegenheit zu wahren. Sansa lässt sich herrlicherweise nicht aus der Ruhe bringen: „,[Is she m]ore beautiful than me?ʻ“ Ser Harry gibt zu, Sansa sei „comely enough“ (Mr. Darcy lässt grüßen! „She ist tolerable, but not handsome enough to tempt me.“). Er fügt noch ziemlich ungeschickt hinzu, er habe befürchtet, Sansa würde wie ihr Vater aussehen. Worauf Sansa sich wieder über ihn lustig macht: „,I hope you joust better than you talk.ʻ“ Sansa triumphiert auf ganzer Linie über den arroganten Ser Harry, und das muss er sogar selbst zugeben: „[H]e burst into a laugh. „,No one told me you were clever.ʻ“ Sansa gibt ihm den Rest, indem sie eindeutig mit ihm flirtet: „She ran one finger down his cheek. ,Should we ever wed, you’ll have to send Saffron back to her father. I’ll be all the spice you’ll want.ʻ“ und ihm dann aber ihren „favor“, ihren Glücksbringer beim Turnier, verweigert. Das Kapitel endet hier. Es hat wunderschön gezeigt, dass Sansa jetzt bereit ist, ihr Lebensglück selbst in die Hand zu nehmen. Sie lernt, zu verführen und für ihren Standpunkt und ihren Stolz einzustehen. Ser Harry sollte kein einfaches Spiel mit ihr haben. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung im fertigen Roman!

Ihr seht also: She’s come a long way – Sansa ist erwachsen geworden und ist nicht mehr der nervige Teenager aus dem ersten Band. Sie hat es nicht verdient, als uninteressante Nebenfigur abgetan zu werden. Gerade die leisen Töne mochte ich bei Sansa so gerne. Ich brauche persönlich keine massakrierten Sklaven und feuerspeiende Drachen, um unterhalten zu werden. Die psychologische Entwicklung von Figuren finde ich viel spannender, und ich konnte hoffentlich zeigen, wie schön diese bei Sansa Stark nachvollzogen wurde.

Tags:

Das gefällt dir vielleicht auch

3 Kommentare

  1. Weltbeobachterin 21. September 2016

    Sansa finde ich auch sehr einfühlsam geschrieben – das wollte ich jetzt auch mal hier und nicht nur im EuF- Forum hinterlassen.
    Ich verstehe auch nicht, wieviele von ihr genervt sind. Sie zeigt auch in der frühen Phase Mut, wie sie Ser Dontos beispielsweise rettet. Auch ihre Beziehung zu Süßrobin finde ich spannend.
    ich persönlich hoffe, dass sie nicht zuviel auf LFs Spuren wandern wird. Obwohl sie das gelernte gut bei Harry anwendet. Den ich ziemlich arrogant finde und nicht so einnehmend, wie sein Vorfahre in den Dunk&Egg Geschichten.
    Hast du vor, noch andere Figuren aus dem ASOIAF-Universum zu beleuchten, wie beispielsweise Brienne. Auf die Männer werde ich mal nicht hoffen…

    Antworten
    1. Sabine 23. September 2016

      Hi Weltbeobachterin, vielen Dank! Freut mich, dass meine Analyse dir gefallen hat!
      Genau, Sansa hat eine innere Stärke, die man nicht erwartet. Sie muss erst mühsam dafür arbeiten, dass sie sich dieser bewusst wird, und insgesamt selbstbewusster wird.
      Ich schließe es mal grundsätzlich nicht aus, dass ich noch eine andere Figur aus ASOIAF analysiere. Die Reihe hat ja Einiges zu bieten – außer Brienne finde ich auch noch Asha und Cersei interessant. Nein, es gibt zwar viele tolle männliche Figuren in ASOIAF, aber ich möchte ja mit Absicht die Frauen in den Mittelpunkt stellen. Vielen Dank für dein Interesse!

      Antworten
      1. Weltbeobachterin 23. September 2016

        mich würds freuen, wenn noch mehrere Damen vorkommen. Asha habe ich auch ziemlich gern. Cersei weniger, aber sie ist spannend. Auch Barbrey Dustin finde ich spannend, bei der habe ich noch kein Urteil gefällt – ob ich sie mag oder nicht.

        Antworten

Hinterlasse einen Kommentar

Your email address will not be published. Required fields are marked *

* Ich stimme der Datenschutzerklärung zu.