Sherlock: Eine sexistische Serie?
Dieser Artikel fällt mir nicht ganz leicht, weil ich ein großer Fan von BBC’s Sherlock bin. Dennoch gehen mir einige Gedanken im Kopf herum, die mich nicht mehr loslassen. Ist bei Sherlock Frauenfeindlichkeit ein Thema? Wie werden Frauenfiguren charakterisiert? Besonders durch das Auftauchen von Euros Holmes, der Schwester von Sherlock und Mycroft, wird das Sexismus-Thema in der Serie wieder brisant, wie ich finde. Deshalb werde ich auch auf das Finale der vierten Staffel, The Final Problem, etwas tiefer eingehen als auf andere Episoden. SPOILER-Alarm für alle, die Staffel 4 noch nicht gesehen haben.
Ich werde der Reihe nach alle relevanten Frauenfiguren aus der Serie beleuchten. Mir ist dabei klar, dass jede Figur der Serie auf ihre Art eindimensional ist. Das stört mich auch nicht. Bei einer rasanten Krimiserie wie Sherlock erwarte ich auch nicht, dass die Figuren bis ins Kleinste psychologisch glaubhaft oder komplex sind. Trotzdem gibt es einige Schwachstellen im Drehbuch der Serie, die ich hier ansprechen möchte. Denn sie gereichen vor allem den weiblichen Figuren zum Nachteil. Das ist meine These: Auch Sherlock bedient das Stereotyp der schwachen Frau als gefühlsgeleitetes Wesen.
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Sexismus auf den zweiten Blick: Irene Adler
Das „Überweib“ schlechthin ist Irene Adler, die in der ersten Folge der zweiten Staffel, A Scandal in Belgravia, auftaucht. Auch in den Sherlock Holmes-Geschichten nennt der Protagonist sie einfach nur „THE Woman“, als stehe sie über ihren Geschlechtsgenossinnen und könne gar nicht mit ihnen verglichen werden. Geistig ist sie Sherlock in der BBC-Serie zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Sie liefert sich komplizierte Machtspielchen mit dem selbstsicheren Sherlock, und scheint auch erst einmal als Siegerin daraus hervor zu gehen. So kommt sie als Ausgeburt der Frauen-Power daher. Wenn man nicht den besonderen Dreh beachten würde, den die Serie ihr verleiht. Irene Adler ist eine Domina. Sie fällt besonders durch ihre übersexualisierte Darstellung auf. Sherlock und John begegnet sie zum ersten Mal splitterfasernackt. Anschließend verdrischt sie Sherlock mit der Peitsche. Womit wir es zu tun haben, ist klar: Einem feuchten Männertraum, einer femme fatale, und das will die Serie auch gar nicht verleugnen. Irene Adler soll einen witzigen Gegensatz zu Sherlocks jungfräulicher Scheu vor allem Erotischen darstellen. Ihr Verstand und ihre Gerissenheit bewirken, dass sie eine interessante Figur bleibt. Den „Todesstoß“ versetzten ihr die Serienmacher erst am Ende. Wir erinnern uns: Sherlock knackt die Verschlüsselung zu Irene Adlers Handy („I am SHERlocked“) nur, weil er deduziert hat, dass sie romantische Gefühle für ihn hegt. Was bleibt also übrig von der femme fatale? Eine von ihren Gefühlen beherrschte Frau. Eine – wenn auch schillernde – Variante vom ewig gleichen Stereotyp. Dass Sherlock in seiner ganzen männlichen Arroganz nicht zugeben kann, dass auch er sich von Irene angezogen fühlt, ist schon ein ziemlicher Tiefschlag für jede feministische Tendenz bei Sherlock, wenn man es bedenkt. Schließlich bedeutet ihre Bloßstellung durch Sherlock erst einmal ihren Tod.
Das Aschenputtel: Molly Hooper
Ich mochte die Figur der Molly Hooper immer sehr gerne, befürchte aber, dass sie nur geschaffen wurde, um dem minderjährigen weiblichen Publikum eine Identifikationsfläche zu bieten. Sie stellt meist das schüchterne Aschenputtel dar, das sich nach Sherlock verzehrt, und bricht nur sehr selten aus dieser Rolle aus. Unvergessen bleibt die rührende Weihnachts-Szene aus A Scandal in Belgravia, als sich die graue Maus übertrieben aufdonnert, um ihren heimlichen Schwarm zu beeindrucken. Eine Tatsache, die Sherlock sofort auffällt, nur bemerkt er zu spät, dass er gemeint ist. Da hat er Molly schon brutal bloßgestellt. Molly kann einem in ihrer unerwiderten Liebe einfach nur leidtun. Dabei ist sie eigentlich die interessanteste Frauenfigur bei Sherlock. Sie arbeitet in einer relativen Männerdomäne, der Gerichtsmedizin. Sie ist schlau und kompetent in ihrem Beruf, hilft den Männern mehrmals aus der Patsche. In Folge drei der zweiten Staffel wird sie sogar zeitweilig zu Sherlocks „Sidekick“. Sie hilft ihm, seinen Tod vorzutäuschen (wie in der ersten Folge der nachfolgenden Staffel aufgedeckt wird). Aber all das hilft nichts: Mollys Figur wird weiterhin über ihre Gefühle zum Protagonisten definiert. Nach Sherlocks Verschwinden verlobt sie sich mit einem Mann, der im Aussehen eine billige Kopie ihres Schwarms ist. Im Finale der vierten Staffel, The Final Problem, kommt es schließlich zu einem dramatischen Showdown in der Beziehung der ungleichen Figuren, Molly und Sherlock. Euros spielt Machtspielchen mit ihren Brüdern und täuscht vor, sie habe Sprengstoff in Mollys Wohnung installiert. Sie setzt Sherlock unter Druck: Wenn es ihm nicht gelingt, Molly am Telefon zu einem Liebesgeständnis zu bringen, wird Molly in die Luft gesprengt. Sherlock soll damit seine Skrupel überwinden, die Gefühle seiner Mitmenschen zu manipulieren. Und wieder sehen wir Molly in der Opferrolle (was ist in der Zwischenzeit eigentlich aus ihrem Verlobten geworden?). Sie behauptet sich nur kurz, wird wütend, als Sherlock seine Bitte ausspricht, bricht aber am Ende doch weinend zusammen. „I cant’t say it, because it’s true.“ Mollys Funktion in dieser Szene ist klar: Sie bricht zusammen, damit Sherlocks Fähigkeit zur Empathie gezeigt werden kann. Das ist leider aber auch schon alles.
Euros Holmes: Die gezähmte Bestie
The Final Problem führt den nächsten großen Bösewicht ein, dieses Mal eine Frau: Euros Holmes, kleine Schwester von Sherlock und Mycroft Holmes. Ihre Existenz wird am Ende der dritten Staffel angedeutet, denn Sherlock wird plötzlich von Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit eingeholt. So soll auch die gesamte Folge einen (kleinen) Einblick in Sherlocks bis dahin verschlüsselte Psyche geben, indem sein Kindheitstrauma aufgedeckt wird.
Euros, ein Spiegelbild von Sherlock
Bei der dramatischen ersten Begegnung stehen sich Bruder und Schwester das erste Mal hinter der Glasscheibe einer Hochsicherheitszelle gegenüber. Vergleiche zu Das Schweigen der Lämmer drängen sich auf. Euros ist hier das Monster, das eingesperrt werden muss. Es geht aber nicht nur um den Gruseleffekt, die Unsicherheit, ob die Scheibe das Gegenüber wirklich aufhalten kann. Die Glasscheibe steht für eine metaphorische Spiegelung der beiden Figuren: Euros ist der weibliche Sherlock, und Sherlock die männliche Euros. Zuerst spielt Euros für Sherlock auf der Violine, dann Sherlock für seine Schwester. Die Serienmacher bringen mit Euros eine Art düsteres Alter Ego von Sherlock ins Spiel. Sie ist eine bösartige Karikatur von Sherlock, der ja auch erst seit Kurzem lernt, Emotionen zuzulassen (man denke an seine Trauzeugen-Rede auf Johns Hochzeit). Das beweist auf den ersten Blick den Mut der Drehbuchautoren. Eine Frau darf böse und gewissenlos sein, eine Frau ist Sherlock und Mycroft sogar geistig überlegen.
Eine Frau als Sherlocks Mentorin
Euros wird als Mentorin von Sherlock bezeichnet: Mycroft eröffnet seinem Bruder schon vor der ersten Begegnung mit seiner verlorenen Schwester: „Every choice you ever made, every path you’ve ever taken, the man you are today is your memory of Euros.” Wie kann das sein?
Wenig später erfahren wir den Grund für diese Behauptung. Denn neben Euros steht auch Sherlock wie ein unwissender Schuljunge da. Bei der ersten Begegnung der Geschwister scheint Euros der bessere Sherlock zu sein. Sie ist ihrem Gegenüber gedanklich schon mehrere Schritte voraus und geht nicht auf seine Fragen ein. Stattdessen weist sie Sherlock nur immer wieder darauf hin, genauer hinzuschauen. „How did you manage to get out of this place?“, fragt Sherlock, woraufhin seine Schwester nur gelangweilt antwortet: “Easy. Look at me.” Zudem habe sie Sherlock das Geigenspiel beigebracht. Ausgerechnet das Geigenspiel, das in der ganzen Serie die besondere Eigenheit Sherlocks darstellt, seine ganz eigene Ausdrucksform. Sherlock entpuppt sich mehr und mehr als minderwertige Kopie seiner Schwester.
Euros: Die erste wichtige Frauenfigur bei Sherlock
Ein schlauer Schachzug, denn mit Euros wird die Rolle von Frauen in der Serie zum ersten Mal aufgewertet. Ihr werdet jetzt fragen: Hey, was ist mit Mary Watson? Ja, Mary ist eine ausgebildete Killerin und widerspricht dadurch dem Bild des treusorgenden Eheweibs von John. Trotzdem wird ihre Rolle vor allem durch den Konflikt definiert, den sie in der Männerfreundschaft von John und Sherlock auslöst. Sie ist und bleibt Johns „love interest“ und sorgt damit für Verwirrung bei John: Wem soll seine Loyalität gelten, dem Freund oder der Ehefrau? Euros dagegen ist identitätsstiftend für den Sherlock. Dass eine Frau hinter all dem steckt, was den Protagonisten ausmacht, finde ich genial. Natürlich war ihr Einfluss verheerend: Durch das Trauma mit Sherlocks bestem Freund Victor, den Euros aus Eifersucht ertrinken ließ, hat der einst emotionale Sherlock all seine Gefühle verdrängt. Der Vorteil dabei ist: Ohne Euros hätte es wahrscheinlich nie den Deduktionskünstler Sherlock Holmes gegeben.
Das enttäuschende Ende einer Super-Bösewichtin
Umso enttäuschender kommt dann das Ende der Episode daher: Hinter der toughen Euros steckt in Wirklichkeit ein verängstigtes Mädchen, das sich einfach nur wünscht, dass ihr Bruder Sherlock in ihr Zimmer kommt. Sherlock umarmt Euros, und schon ist die Bestie gezähmt, John aus dem Brunnen gerettet. Diese Auflösung fand ich mehr als schwach. Wozu eine „Super-Bösewichtin“ aufbauen, wenn sie so leicht zu bezwingen ist? In der Montage am Ende sehen wir, wie Sherlock seine Schwester weiterhin in ihrer Zelle besucht und mit ihr Geigenduette spielt. Schön und gut, aber was ist aus Euros‘ berüchtigter Manipulationskunst geworden? Hat sie die plötzlich verloren? Bleibt sie freiwillig auf Sherrinford eingesperrt? Alles Fragen, die die Serie nicht auflöst. Euros scheint, ganz von allein, zu einem sanften Lämmchen geworden zu sein. Das Online-Magazin „Indiewire“ bringt es auf den Punkt, wenn es in seiner Kritik von The Final Problem schreibt: „Every woman on the show has been systematically defanged […]“. Jeder Frau, aber vor allem Euros, wurden die Reißzähne gezogen. Wie es scheint, ist die BBC-Serie Sherlock aus dem 21. Jahrhundert nur wenig gerechter in ihrer Darstellung der Geschlechterrollen als ihr Vorbild aus dem 19. Jahrhundert.
Leider reine Nebenfiguren: Mary Watson und Mrs. Hudson
Ich werde nur kurz auf Mary Watson eingehen, weil ich die Entwicklung ihrer Figur nicht mag. Das ist natürlich reine Geschmackssache. Den Ausflug in das Spionage-Genre bei Sherlock fand ich überflüssig und aufgesetzt. Mary bleibt trotz ihrer „bad ass“-Attitüde eine reine Nebenfigur. Sie soll einen Konflikt zwischen John und Sherlock herbeiführen, wie oben erläutert, ganz besonders durch ihre Entscheidung, sich für Sherlock zu opfern. Mrs. Hudson, die mütterliche Freundin der beiden Protagonisten, wehrt sich ja interessanterweise immer wieder gegen typisch weibliche Attribute: „I’m your landlady, not your housekeeper!“ Sie will eben nicht nur die Putzfrau sein, die wie eine Mutter hinter John und Sherlock herräumt. Sie bleibt aber nur eine witzige Randnotiz der Serie – rasante Autofahrt hin oder her.
Zitat: „Auch Sherlock bedient das Stereotyp der schwachen Frau als gefühlsgeleitetes Wesen“
Und das ist schlimm – inwiefern? Ich bin ein Mann und würde von mir ganz klar sagen, dass ich ein gefühlsgeleitetes Wesen bin. Jeder halbwegs normale Mensch ist das doch wohl? Wir sind ja keine Roboter. Gerade Sherlock lernt in der Serie ja auch mehr und mehr gefühlsgeleitet zu sein.
Ich denke es gibt, speziell in den Staffeln 3 und 4, noch ganz andere Dinge über die man sich ärgern kann. Ich verstehe auch nicht wieso man zwanghaft überhaupt soviel am Original rumschrauben muss damit es in die heutige Zeit passt. Dann könnte man ja auch monieren, warum Sherlock Holmes kein, schwarzer, Transgender mit einer Behinderung ist – oder zumindest warum es solche Figuren mit tiefer Bedeutung für die Story nicht gibt. Euros war überhaupt nicht nötig – und die Auflösung dann entsprechend unbefriedigend. Mit Irene Adler und Moriarty hätte man alles gehabt was es braucht. Leider ging es viel mehr um „Action“ und zu viel Action ist leider der Tod der Tiefe.
Die Serie verliert nach Staffel 1 teils massiv an Charme und Leichtigkeit und wird dann in 3 und 4 immer abgehobener – und das leider ohne Not. Viel zu konstruiert und zu bemüht und teilweise auch einfach nur lächerlich. Da wird wie „Nomnivor“ geschrieben hat Intelligenz dann zu Magie. Wie will ein mäßig intelligenter Serien-Schreiberling auch realistisch überdurchschnittliche Intelligenz porträtieren? Das klappt halt nur eine Zeit lang und verliert sich dann in „Magie“ -> Hypnose, Gedankenkontrolle.
Ich denke das selbe Problem besteht bei Frauenfiguren – diese sind vermutlich oftmals von Männern geschrieben und sind dahermeist auf Wunschträume eben derer begrenzt.
Ich liebe die Serie, aber in dem Punkt Frauenfiguren muss ich dir absolut Recht geben, das ist einer der wenigen negativen Punkte, die ich daran finden kann. Und über manches, was du erläutert hast, hatte ich so noch gar nicht bewusst nachgedacht, also auch ein erhellender Artikel. 😀 Und wieder wirklich gut geschrieben!
Vielen Dank! 🙂 Die Serie ist in weiten Teilen wirklich gut geschrieben, aber es ist so oft so: Wenn es zu Frauenfiguren kommt, sind Autoren schlicht und einfach zu faul (oder zu ignorant) sich was Nicht-Klischeehaftes auszudenken. Sehr traurig.
Danke für deinen Kommentar!
kaum fange ich an zu lesen, lese ich „Staffel 4“ – waahhh, die hab ich noch nicht gesehen. Bevor ich nun deinen Beitrag lese, die Frage nach Spoiler, denn sonst musst du leider auf einen Kommi von mir warten – erstmal Staffel gucken 😉
Liebe Grüße
Janna
Schau dir auf jeden Fall erst Staffel 4 an – es geht im Beitrag viel um Sherlocks Schwester 😉
Gut erst gucken und danach hoffentlich an deinen Beitrag denken und vorbeischauen (=
Sollte es auf Netflix geben! 😉 Ja schau es schnell an, bestimmt hast du dann ähnliche wutentbrannte Gedanken wie ich. Den Artikel hab ich ganz in Rage geschrieben 🙂
„Was bleibt also übrig von der femme fatale? Eine von ihren Gefühlen beherrschte Frau. Eine – wenn auch schillernde – Variante vom ewig gleichen Stereotyp. “
Irene Adler finde ich noch aus einem ganz anderen Grund sexistisch. Im Original ist sie besser als Sherlock; sie besiegt ihn mit Leichtigkeit. Das war, was ihn so an ihr fasziniert hat.
Und in der BBC-Version? Sie verliert nicht nur gegen ihn, sie muss auch noch von ihm gerettet werden. Es ist, wie du sagst, der ewig gleiche Stereotyp, den man schon 10500x in dieser Weise gesehen hat. Was so schmerzhaft und sexistisch ist, weil ja gerade die Ursprungsquelle gezeigt hat, wie es anders geht.
Das selbe mit Mary. Sie wird dann doch wieder von Sherlock gerettet, und ultimativ opfert sie sich für ihn, damit ihr Mann glücklich ist.
Ich liebe Sherlock. Allerdings sind solche Momente, und dass Moffat und Gatiss offensichtlich glauben, Intelligenz ist Magie, dann doch Stimmungsdrücker.