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„Die Geschichte eines neuen Namens“ – Ein Coming of Age durch Gewalt

Die Geschichte eines neuen Namens ist der zweite Band der gefeierten „Neapolitanischen Saga“. (Lest gerne meinen Beitrag zu Band 1, Meine geniale Freundin.) Wurde im ersten Band noch die Kindheit der Protagonistinnen beschrieben, geht es jetzt um ihr junges Erwachsenenalter – und damit ist es auch vorbei mit den schönen Illusionen. Lila und Lenù sind in einer Gesellschaft voller Gewalt aufgewachsen, werden jetzt aber voll damit konfrontiert. So erzählt Die Geschichte eines neuen Namens auch die Geschichte des Protests von zwei jungen Frauen gegen die physische und psychische Gewalt ihrer Umgebung.

Die Geschichte eines neuen Namens – Gewalt und Gewaltphantasien

Zu diesem Schluss bin ich gekommen, als ich im Geiste meine Lieblingsszenen aus dem Buch durchgegangen bin. Es sind alles Szenen, die von Gewalttaten, Gewaltphantasien oder zutiefst brutalen Lebensumständen handeln. Das alles wird in einem dick aufgetragenen, bisweilen saftigen Realismus beschrieben. Tatsächlich spricht er aber die knallharte Wahrheit über das Leben der Protagonistinnen aus – zur Melodramatik muss Ferrante nie greifen. Die Schonzeit ist vorbei, vor allem für Lila, die sich Hals über Kopf in eine Heirat gestürzt hat, um sich gerade vor der Brutalität der Armut und der Camorra-Herrschaft der Solaras zu schützen. Ihre falschen Hoffnungen werden ja auch bereits bitter enttäuscht, als sie auf ihrer Hochzeitsfeier erkennen muss, dass ihr Frischangetrauter Stefano längst mit den Solara-Brüdern unter einer Decke steckt.

Der abgerissene Arm und die Herrschaft von Frauen

Hier komme ich auch schon zu meiner ersten Lieblingsszene des Buches. Es ist der Moment auf Lilas Hochzeitsfeier, als die Solara-Brüder hereinkommen, und Nino Sarratore gerade den Saal verlässt. Die strebsame Elena hatte gehofft, zu den Intellektuellen aufschließen zu können, für den sie auch den Studenten Nino hält. Sein Desinteresse an ihrer Person deutet sie deshalb als herben Rückschlag. Lila hat eben festgestellt, dass Stefano eifriger Handlanger der Solara-Brüder ist. Während Elena in Selbstmitleid versinkt, reagiert ihre Freundin natürlich gänzlich anders auf diese Enttäuschung.
„Meine Freundin zerrte mit beiden Händen am Arm ihres Mannes. [I]ch […] spürte, dass sie ihm den Arm abgerissen hätte, wenn sie es gekonnt hätte, dass sie ihn hoch über ihrem Kopf geschwungen hätte, während sie mit Blutstropfen auf der Schleppe den Saal durchquert hätte, […] um Marcello mit einem wohlgezielten Schlag das Gesicht zu zertrümmern.“ (S. 20).
Diese großartige Vorstellung erinnert an die Figur der „Bride“ aus Tarantinos „Kill Bill“-Filmen – eine blutige Rächerin des weiblichen Geschlechts. Während Lila nun wütend den Saal verlässt, kann Elena nur still dasitzen und von einer Apokalypse ihrer Heimat phantasieren: „Schluss mit der Liebe und diesem unerträglichen Fest […]! Unverzüglich alles im Rione zerschlagen, Menschen und Dinge, alles niedermetzeln, weglaufen, Lila und ich, weit fort, und mit fröhlicher Verschwendung gemeinsam alle Stufen der Verworfenheit nach unten steigen […].“ (S. 20-21). Aber das Ausmaß dieser Gewaltphantasie zeigt nur umso deutlicher die Ohnmacht der beiden Mädchen. Elena kann nichts unternehmen, um ihre Freundin aus dieser Ehe zu befreien, kann nicht einmal ihre Wut zeigen, weil sie „zu heftigen Reaktionen nicht fähig“ ist (S. 21). Und auch Lila, die Mutige, ist ihrem Ehemann völlig ausgeliefert, so laut ihr Protest auch sein mag. Sie wird in der Hochzeitsnacht von Stefano vergewaltigt. Elenas Phantasie von einer gewalttätigen Zerstörung der Männerwelt – dem Rione – symbolisiert den Anfang eines neuen Entwicklungsprozesses der beiden Mädchen. Lila wird sich gegen ihre Lebensumstände wehren und alleine den Kampf ausfechten, den die meisten Frauen im Rione nicht zu kämpfen wagen. Elena wird weiter fleißig in der Schule lernen – und ihre eigene Rebellion später mit dem Schreiben versuchen.

Stefanos „Metamorphose“ und Lilas neuer Name

In Die Geschichte eines neuen Namens berichtet Elenas Erzählstimme nicht nur von ihrer eigenen Perspektive, sondern auch von der ihrer Freundin. Sie gibt Lilas Erlebnisse nach deren Erzählung, aber vor allem auch mithilfe ihrer „Hefte“ wieder, Tagebücher, die Lila ihr später anvertraut. So schildert Elena zweimal gebrochen Lilas Perspektive – gebrochen durch das Aufschreiben und das nochmalige Nacherzählen. Es ist dadurch natürlich Elenas Stimme, die erzählt, wenn auch inspiriert von Lilas Gedanken. So wird Lilas Geschichte durch Elena zur Literatur als Ersatz für Lilas literarische Stimme, die nie gehört wurde. Interessanterweise hat Elena mitgeholfen, die Stimme ihrer Freundin zum Verstummen zu bringen – denn eifersüchtig auf die Sprachgewandtheit ihrer Freundin, hatte Elena die Hefte ihrer Freundin in den Arno geworfen, den Fluss in Pisa, nachdem sie sie gelesen hatte. Elenas Nacherzählung ist deshalb vielleicht auch eine späte Wiedergutmachung.
Besonders eindrücklich berichtet Elena von Lilas Hochzeitsnacht. Denn hier lässt Stefano seine gutmütige Fassade fallen und wird seinem Vater Don Achille immer ähnlicher, diesem Bösewicht aus dem Märchen, vor dem die Mädchen als Kinder solche Angst hatten. Eine Verweigerung des ehelichen Beischlafs lässt Stefano natürlich nicht durchgehen.
„Oh ja, […] um ihr zu gefallen, hatte Stefano sich alle Mühe gegeben, ein anderer zu sein. […] Aber nun begannen die Konturen, in die er sich so lange Zeit hineingezwängt hatte, nachzugeben, so dass Lila von einem kindischen Entsetzen gepackt wurde […]. Aus dem Schmutz des Rione erstand, sich von der lebenden Materie seines Sohnes nährend, Don Achille wieder auf. Der Vater sprengte Stefanos Haut, veränderte dessen Blick, brach aus dessen Körper hervor.“ (S. 50).
Stefano vergewaltigt Lila und ihr kindliches Grauen ist so groß, dass es dieses magischen Realismus bedarf, um es zum Ausdruck zu bringen. Am Ende bleibt Lila nur ein Gedanke: „Sie hasste Stefano Carracci, sie hasste seine Kraft, hasste sein Gewicht auf ihr, hasste seinen Vor- und seinen Zunamen.“ (S. 52). Lila wird sich nun zum ersten Mal bewusst, dass sie dem Patriarchat ausgeliefert ist. Umso treffender verwandelt sich ihr verhasster Ehemann in seinen Vater, und umso treffender beginnt sie nun auch seinen Familiennamen zu hassen, den er ihr gegeben hat. Die Geschichte eines neuen Namens deutet natürlich auf Lilas neues Leben als Signora Carracci hin. Lila emanzipiert sich letztendlich von ihrem neuen Namen und nimmt wieder inoffiziell ihren Mädchennamen an. Elena wird am Ende des Romans zur Schriftstellerin und beschließt, auch weiterhin ihren Mädchennamen „Greco“ für Veröffentlichungen zu nutzen, auch im Falle ihrer Heirat. So erkämpfen sich beide Mädchen auf ganz unterschiedliche Art und Weise ihre Identität als eigenständige Individuen, anstatt das Anhängsel eines Mannes zu bleiben. 

Der „Fluch“ der Sarratores

Einen großen Handlungsstrang in Die Geschichte eines neuen Namens stellt die Dreiecksbeziehung zwischen Lila, Elena und Nino Sarratore dar. Elena hegt seit ihrer Kindheit romantische Gefühle für den Schulprimus und Schmalspur-Intellektuellen. In einer überraschenden Wendung stellt sich aber heraus, dass Nino es – trotz einiger Avancen für Elena – auf ihre Freundin Lila abgesehen hat. Das eigentliche Rückgrat der Geschichte ist jedoch nicht die Liebeshandlung, sondern der fortdauernde Kampf der beiden Mädchen, ihrer Herkunft zu entkommen. Nino ist dabei nur ein Sehnsuchts-Symbol. Für Lila stellt er tatsächlich den letzten Ausweg aus ihrer Ehe dar, und sie ist entschlossen, diesen Ausweg wahrzunehmen. Er wird ihr Geliebter, sie will mit ihm durchbrennen, er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut für sie. Elena hingegen verklärt Nino zu einem „asketische[n] Prinz[en]“ (S. 75), der mit seiner „anmaßenden Zerstreutheit“ (ebd.) die Hierarchie im Rione in Frage stellt, indem er die Solara-Brüder auf der Hochzeitsfeier komplett ignoriert hat.
In über 200 Seiten wird der in Die Geschichte eines neuen Namens der Sommer auf Ischia beschrieben, in der sich die ménage à trois zwischen den Freundinnen und Nino entwickelt. Eine mitunter unerträglich lange Erzählzeit. Da hätte man gut und gerne auf viele akribische Beschreibungen von sich wiederholenden Tagesabläufen verzichten können. Vielleicht soll diese extrem gedehnte Erzählzeit auch die Verzweiflung Lilas andeuten, die in diesen acht Wochen die endgültig letzten acht Wochen ihrer Jugend sieht. Für Lila und ihre Schwägerin Pinuccia bedeutet der Urlaub tatsächlich eine kurze Freizeit von der Rolle der Ehefrau, ihre Männer kommen nur am Wochenende zu Besuch, und sie können wieder junge Mädchen sein. Elena dagegen, als Unverheiratete, hofft, dass ihr Erwachsenenleben endlich anfängt. Ihre Enttäuschung über Lila ist deshalb umso bitterer, da sie unfähig ist, aus ihrer Passivität auszubrechen: „Ich hatte mich in [Lilas] Dienste begeben und spielte nun die Rolle der Dienstmagd, die ihrer Herrin beisteht. Ich deckte ihren Ehebruch.“ (S. 364).
Am Ende erlebt Elena trotzdem einen kleinen Triumph, der aber sehr bizarr daherkommt. Aus Liebeskummer und Einsamkeit gibt sich Elena dem schmierigen Vater von Nino Sarratore hin – ja, diesem heuchlerischen Dummschwätzer, der Elena schon in Band 1 aggressive Avancen gemacht hatte, obwohl er ihr Vater sein könnte. Ausgerechnet mit ihm erlebt sie ihren ersten Sex. Ich habe die Szene mit einer Mischung aus Ekel und Faszination gelesen. Faszination deshalb, weil es Elena natürlich nicht um den Mann geht, mit dem sie schläft. Er ist bloß ein Mittel für ihre Identitätsfindung. Deshalb spreche ich von einem Triumph. An dieser Textstelle wird meine Behauptung deutlicher:
„[Ich] [b]emerkte, dass ich wieder Boden unter den Füßen bekam, […] dass die Angst sich selbst vergaß […]. Ich hatte ein verborgenes Ich – erkannte ich -, das von Fingern, Mund, Zähnen und Zunge [Sarratores] aufgespürt werden konnte. Schicht für Schicht verlor dieses Ich jeden Schlupfwinkel, zeigte sich ohne Scham, und Sarratore bewies, dass er wusste, wie man vermied, dass es entfloh, dass es sich schämte.“ (S. 382).
Es wird hier nichts Anderes beschrieben als das Erwachsenwerden eines Mädchens durch das Erwachen ihres sexuellen Verlangens und Selbstbewusstseins. Sie lässt Sarratore später ihre Verachtung spüren, als er „es schon wieder mit süßlichen Phrasen“ (S. 384) versucht, und droht ihm mit den Solara-Brüdern. Während Lila ihr „erstes Mal“ mit einem Trauma erleben musste, das ihren Rebellionsgeist aber erst anstachelte, erlebt Elena es als erleichternde Erfahrung.

Die Geschichte eines neuen Namens: Hoffnung in brutaler Umgebung

Ganz am Ende von Die Geschichte eines neuen Namens findet die, wie ich finde, erschütterndste und schönste Szene des Romans statt. Es ist die Wiederannäherung der Freundinnen, als Elena Lila an ihrem Arbeitsplatz besucht, in einer Fleischwarenfabrik. Es geht in dieser Szene ganz klar um gesellschaftliche Klassen. Lila, die den bescheidenen Luxus ihres gutbürgerlichen Ehemanns gegen ein hartes Leben voll körperlicher Arbeit eingetauscht hat. Elena, die als „Parvenü“ wieder in die Arbeiterklasse hinabsteigt, unbewusst, um ihrer Freundin zu zeigen, „was sie verloren und was [sie, Elena] gewonnen [hat]“. (S. 617). Elena denkt, es gelten immer noch die Spielregeln ihrer Kindheit, mit all dem Konkurrenzdenken der kleinen Mädchen, die um die Bestnote wetteiferten. In dieser Hinsicht hat sich Elena gar nicht weiterentwickelt. Sie erscheint „verkleidet als das Mädchen aus gutem Hause“ (S. 615), hat einen Universitätsabschluss und will von ihrem ersten Roman berichten. Dennoch glaubt sie immer noch, das Leben zu leben, das Lila zusteht. Um ihr Schuldgefühl zu beruhigen, bringt sie Lila ihren verschollenen Kinder-Roman „Die blaue Fee“ mit. Elena hat es offensichtlich in allen Belangen besser getroffen als Lila. Trotzdem schafft diese es, Elena ihre Schuldgefühle und ihre Verblendung zu nehmen.
Diese zarte, aber intensive Szene findet in einem denkbar brutalen Umfeld statt. In einer Wurstwarenfabrik voller „ekelhafte[m] Gestank nach Tierfett“ (S. 609), wo die Arbeiterinnen und Arbeiter „in einer finsteren Gleichgültigkeit gefangen“ (S. 611) sind, einer Fabrik, wie sie bei Dickens genauso vorkommen könnte. Elena muss durch mehrere symbolische Höllenkreise gehen („Die Maschinen produzierten rasselnde Geräusche […]“ (ebd.),  Menschen entfleischen Knochen „mit kleinen, scharfen Messern [und führten sie] mit einem gefährlichen Ungestüm“ (ebd.)), erst bei den Kühlräumen entdeckt sie Lila. Elena ist zutiefst schockiert von der ausgezehrten Erscheinung ihrer Freundin, die „fiebrig, […], grau, blutleer“ (S. 612) aussieht. An den Händen hat sie vom Entfleischen viele Schnittwunden. Trotzdem hat Lila ihrer Freundin etwas voraus: Sie ist zufrieden mit ihrem selbst gewählten Los, lässt sich nicht gehen, sondern bildet sich nachts sogar weiter. Lila zeigt ihrer Freundin ganz unverblümt, aber ohne Vorwurf die harte Realität des Lebens (der Fabrikantensohn, ein Freund Ninos, durch den Lila die Stelle bekommen hat, betrachtet seine Arbeiterinnen z.B. nur als Freiwild, worüber sich Elena entsetzt zeigt, vgl. S. 613). Dadurch hilft sie Elena bei ihrem „Coming of Age“:
„[A]uf die Gefahr hin, sich Reibereien mit ihren Arbeitskollegen und Geldstrafen einzuhandeln, [erklärte sie mir], dass ich gar nichts gewonnen hatte, dass es auf der Welt überhaupt nichts zu gewinnen gab, dass […] die Zeit ganz einfach ohne Sinn verrann und es nur schön war, sich hin und wieder zu sehen, um den verrückten Klang des Gehirns der einen als Echo im verrückten Klang des Gehirns der anderen zu hören.“ (S. 617).
Die beiden Alter Egos streiten (vorerst) nicht mehr mit einander, sondern sind zufrieden, voneinander zu lernen. Lila hat sich Elenas Hartnäckigkeit zu eigen gemacht. Und Elena beginnt, mit dem Finden ihrer eigenen Stimme (ihrem Roman), Frieden in der Gewissheit ihrer eigenen Identität zu finden.

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