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Aktuelle Popkultur Coming of Age: Frauenfiguren werden erwachsen Literatur

Alina Starkov – Frauenfiguren im Grishaverse

Alina Starkov Illustration und Buchcover von "Shadow and Bone"

© Orion Children’s Books, 21 Laps Entertainment

Underdog, Soldatin, Heilige – mit Alina Starkov, der Protagonistin aus der Shadow and Bone-Trilogie von Leigh Bardugo starte ich meine Beitragsreihe zu den Frauenfiguren des Grishaverse! Alina macht im Laufe ihrer Trilogie einige weitreichende Entwicklungen durch und hat sich daher einen Platz in dieser Artikelreihe redlich verdient. Selbstverständlich wird auch die berechtigte Kritik an ihrer Figur Thema dieses Artikels sein, z.B. ihre Passivität in Band 1. Der Fokus hier wie bei allen Folgeartikeln wird natürlich auf einer feministischen Kritik der Figur liegen. Die erste Staffel der Netflix-Serienadaption und Alinas Darstellung dort habe ich allerdings schon in einem anderen Artikel abgedeckt: Shadow and Bone setzt auf eine gestärkte Serienheldin – darum wird es hier nicht gehen. Ich fokussiere mich ausschließlich auf die Buchdarstellung.

SPOILERWARNUNG für alle Grishaverse-Bücher, aber besonders für die gesamte Shadow and Bone-Trilogie – Rule of Wolves werde ich hingegen nicht behandeln, weil ich Alinas Cameo-Auftritt dort ziemlich hanebüchen finde. (Schreibt mir gerne in die Kommentare, wie ihr den fandet.)

Unterscheidung zwischen den „Messias“-Figuren im Ravka-Plot und den Abenteurern des Ketterdam-Plots

Grundsätzlich erscheint es mir sinnvoll, eine Unterscheidung zwischen den beiden Erzählwelten „Ravka“ und „Ketterdam“ im Grishaverse zu ziehen. Denn das unterschiedliche Worldbuilding der beiden Settings hat großen Einfluss auf die Figurenzeichnungen.

Die Ravka-Bücher funktionieren nach einer typischen Fantasy-Prämisse: Ravka (ein fiktives Russland) ist der „Underdog“ in der dargestellten Welt. Das Land ist seit Jahrhunderten von Kriegen zermürbt. Religion spielt eine große Rolle, hier ein Glaube an Heilige (ähnlich zur Ikonenverehrung im russisch-orthodoxen Christentum). Dazu kommt die Bedrohung durch außer Kontrolle geratene Grisha-Magie. Es geht schlicht um die Rettung der Welt. Ravka steht mit dem Rücken zur Wand und wartet auf die Figur, die es retten kann.

Die Figuren im Ravka-Plot changieren daher alle um diesen Messias- oder Auserwählten-Archetypus. Besonders Alina und der Darkling, aber auch Zoya und Nikolai. Das setzt einfach eine andere Stimmung voraus als im Ketterdam-Plot. Das ist mehr ein Abenteuer-Roman mit Figuren, die versuchen, ihre Moralität und ihren Weg in einer (durchaus brutalen) Welt zu finden. Aber es geht nicht gleich ums große Ganze, um die Rettung der Nation. Daher unterscheiden sich Alina, Zoya und Genya ziemlich von den Frauenfiguren in der Ketterdam-Handlung, Inej und Nina.

Alina Starkov: Heldin der originalen Shadow and Bone-Trilogie

Ich bin ehrlich, das wird schwierig für mich. Mich juckt es trotz aller berechtigter Kritik ein bisschen in den Fingern, eine Apologie auf Alina Starkovs Figur zu schreiben, weil ich es so schade finde, dass sie von vielen Leser*innen und Rezensent*innen als langweilig abgestempelt wird. Bei dem Wort „langweilig“ habe ich sofort den Drang, eine so bezeichnete Frauenfigur zu verteidigen. Denn, klar: Natürlich ist Alina bis auf ein paar kleine Ausnahmen nicht super-„badass“, gerade wenn man sie mit Zoya oder Inej vergleicht, und besonders im ersten Teil ihrer Trilogie noch recht passiv gezeichnet. ABER: Die ganze Diskussion scheint schon wieder gefährlich in die Richtung „Sei Pippi, nicht Annika“ zu kippen. Frauenfiguren, die dem Klischee nach „männlich konnotierte“ Eigenschaften aufweisen (aggressiv, körperlich stark, schlagfertig) werden gefeiert, während leisere Frauenfiguren unter den Tisch fallen. Weder das eine noch das andere Extrem sollte als „besser“ oder „interessanter“ hervorgehoben werden, sonst bedienen wir schon wieder frauenfeindliche Klischees.

Dazu kommt: Alina ist selbstverständlich nach dem Vorbild der typisch unsicheren Young-Adult-Heldin gezeichnet (Bella Swann aus Twilight ist hier sicher das bekannteste Vorgänger-Beispiel). Leigh Bardugo hätte die Grishaverse-Reihe wahrscheinlich nie an einen Verlag verkaufen können, wenn sie Alina dieser beliebten Trope nicht angepasst hätte. Und trotzdem hat sie aus ihrer Figur entwicklungstechnisch noch viel herausgeholt.

Das ist für mich persönlich auch das wichtigste Argument FÜR Alina (und vergleichbare Figuren wie Sansa Stark): Es findet eine interessante Entwicklung statt. So toll Inejs Figur ist, so hat sie doch schon fast ihre ganze Entwicklung hinter sich, bevor wir sie zum ersten Mal in Six of Crows zu sehen bekommen. Sie bleibt sich relativ gleich und ist mit sich schon längst im Reinen. Alina hingegen – und auch Zoya – müssen sich erst diversen Kämpfen stellen, bevor ihre Geschichten abgeschlossen sind.

Alina Starkov und die Doppelmoral bei Heldenfiguren

Alina Starkov ist zu Beginn von Shadow and Bone in vielerlei Hinsicht die typische YA-Heldin: ein bisschen naiv, dabei aber aufmüpfig. Sie schwankt oft zwischen Trotz und Versagensängsten – sehr großen Versagensängsten. Sie zweifelt zu Beginn ihrer Trilogie ständig an sich und das führt dazu, dass sie oft sehr passiv gezeichnet ist – sicher der häufigste Kritikpunkt an Alinas Figur. (Das trifft aber vor allem auf den ersten Band der Reihe zu. Auf diesen Punkt komme ich später zurück.)

Ihre Rolle als „Auserwählte“ zwingt sie allerdings in eine Heldenposition. Die ganze Shadow and Bone-Trilogie erzählt dann, wie Alina diese Rolle für sich auslegt. Bemerkenswert fand ich hier, dass sie einerseits tatsächlichen Heroismus an den Tag legt. Sie will sich für ihr Land einsetzen, vor allem ab Band 2, als es darum geht,  sich im Bürgerkrieg dem Darkling entgegen zu stellen. Andererseits liegt ihre klare Motivation, ihr eigenes Potential anzunehmen, auch darin, dass sie als besonders gesehen und geliebt werden will. Gerade weil sie ihr Leben lang ignoriert wurde. Darin unterscheidet sie sich z.B. stark von der Hunger Games-Heldin Katniss Everdeen.

Vielleicht ist das der noch schwerer wiegende Kritikpunkt vieler Leser*innen an Alinas Figur – ihre emotionale Bedürftigkeit, die sich z.B. in Gutgläubigkeit äußert. Hier habe ich mich gefragt, ob wir diese Bedürftigkeit vielleicht besonders bei Frauenfiguren übel nehmen. Wenn man den Vergleich z.B. zu Luke Skywalker zieht – einer anderen typischen „Auserwählten“-Figur – so spielen bei ihm ja ebenfalls seine Selbstzweifel eine große Rolle bei seiner Charakterisierung.

Warum wird also besonders Frauenfiguren in Heldenrollen emotionale Bedürftigkeit als Schwäche ausgelegt? Vielleicht, weil von ihnen automatisch eine Entwicklung zur Abhärtung erwartet wird. „Sei endlich mal stark!“ im Gegensatz zu Mitgefühl bei männlichen Helden: „Der Arme, er trägt schon so eine große Last, und jetzt kommen ihm auch noch seine Selbstzweifel dazwischen.“ Es lässt sich hier durchaus eine Doppelmoral feststellen. Und siehe auch nochmal die „Sei Pippi, nicht Annika“-Debatte vom Anfang.

Buchcover "Shadow and Bone": Original, neues Cover, Cover mit Serienmotiv

© Orion Children’s Book

„Teenage Angst“, Wut und Sarkasmus: Alina Starkov als „Underdog“ unter den Grisha

Alinas Figurenentwicklung könnte man als „vom Underdog zur Heldin wider Willen“ bezeichnen. Am Anfang von Shadow and Bone beschreibt Alina sich selbst: „I was no one, a refugee from an unnamed village, a scrawny, clumsy girl hurtling alone through the gathering dark.”

Ihre Minderwertigkeitskomplexe sind im ersten Teil der Trilogie zunächst der bestimmende Teil ihrer Persönlichkeit. Sie schämt sich ihres kränklichen Aussehens und ihrer körperlichen Schwäche. Eine Scham, die dann noch verstärkt wird, als ihre Grisha-Kräfte entdeckt werden und sie als Heiligenfigur „Sankta Alina“, als „Erlöserin“ von ganz Ravka gehandelt wird. Dazu fühlt sich Alina aber in keinster Weise befähigt, kann sie doch zu Beginn nicht einmal selbst ihre Kräfte aufrufen. Dazu kommt ihre teenager-typische Schwärmerei für ihren „Sandkastenfreund“ Mal, der sie aber höchstens als Kumpel betrachtet. Eine überzogene Darstellung der schüchternen YA-Heldin?

Ja, sicher. Zum Glück gibt es einige Charakterdetails, die dieser typischen „teenage angst“ ein Gegengewicht entgegen setzen: Alina hat einen herrlich trockenen Humor, der immer wieder in ihren inneren Monologen durchbricht. Sie hat außerdem bei vielen Gelegenheiten eine erstaunliche Scharfsicht auf ihre Umwelt. Das betrifft vor allem die cliquengeprägte Welt des „Little Palace“. Sie durchschaut viele Dynamiken in der Grisha-Schule schnell: die künstlich aufrecht erhaltene Hierarchie unter den Grisha-Abteilungen, zum Beispiel. Oder der von außen seltsam anmutende, fanatische Wettbewerb unter den Grisha um die Gunst des Darklings (den er natürlich selbst sehr gut zu befeuern weiß).

Eine weitere witzige Note wird Alinas Figur mit ihrer konstant schlechten Laune hinzugefügt. Sie darf über ihre persönlichen Mängel, aber auch über ihre hilflose Position als Neuling am „Little Palace“ wütend sein – nicht nur verzweifeln. Das bringt sie auch öfter im inneren Monolog oder mit schroffen, selbstironischen Äußerungen zum Ausdruck. (Schön z.B. der Dialog zwischen ihr und dem Darkling: „What are you smiling at?“, fragt er. „Myself“, antwortet sie. „Are you that funny?“, will er wissen. „I’m hilarious.“, gibt sie trocken zurück.)

So stellt sie zumindest teilweise den liebenswerten „Underdog“ dar, wenn ihre Naivität auch bei anderen Szenen zu stark übertrieben wurde. („His color. What did it mean?“, fragt sich Alina, als ihr der Darkling zum Winterfest ein schwarzes Abendkleid schicken lässt und sie damit endgültig als seine „Favoritin“ kennzeichnet. Was könnte das wohl bedeuten, Alina? *Augenroll*) Aber natürlich muss man beachten, dass das Buch eine jüngere Zielgruppe ansprechen soll.

„The Chosen Zero“

Alina scheint als „Auserwählte“ erstmal gründlich zu versagen –  „the Chosen Zero“ quasi (siehe tvtropes.org). Sie kann ihre magischen Kräfte nicht selbst aufrufen. Sie ist eine Niete im Nahkampf und dauernd erschöpft. Sie hat Schlafprobleme und kann nichts essen. Man läuft fast Gefahr, in Langeweile abzudriften, denn der Roman zieht auf den ersten 150 Seiten alle Register, um Alinas Situation als scheiternde Außenseiterin gründlichst auszuschlachten. Zum Glück kommt im Plot aber dann die „Rettung“: Alinas Schwäche und ihre depressive Stimmung waren ein „plot device“! Juhu! Das heißt, sie spielten nicht einfach nur in die klischeebelastete Charakterisierung der YA-Heldin hinein. Sie hatten einen konkreten Zweck im Plot.[1]

Die Depressionsmetapher in Shadow and Bone

Denn in der Mitte von Shadow and Bone bekommt der (zunächst recht konventionelle Auserwählten-Plot) eine überraschende Wendung, die sich für Alinas Entwicklung als äußerst bedeutungsvoll beweist. Und ich halte den Aufbau dieser Entwicklung für sehr gelungen.

Denn: Alina hat ihre magischen Kräfte ihr Leben lang unterdrückt, ohne es zu realisieren! Selbst im „Little Palace“, nachdem ihre Ausbildung schon längst angefangen hat, sitzt die Selbstverleugnung noch zu tief.

Die Offenbarung erfolgt für Alina, als sie sich selbst die Hoffnungslosigkeit ihrer Schwärmerei für Mal eingesteht. Das ist aber gleichzeitig ein großer Moment der Selbsterkenntnis für sie. Sie hatte sich als Kind selbst verleugnet, um in Mals Welt zu passen, um nicht von ihm aus dem Waisenhaus fortgeholt zu werden. Diese Selbstverleugnung hatte ihren kränklichen Zustand und ihre depressive Stimmung verursacht: „I’d pushed my power down and held it there each day, with all my energy and will, without ever realising it. I’d used up every bit of myself to keep that secret. … It was time to let go.”

Diese Erkenntnis führt dazu, dass Alina endlich den verschütteten Anteil ihrer Identität anerkennen kann: den Grisha-Anteil, der ja eigentlich dazu da ist, sie zu stärken. „I opened my hands and the light bloomed right through me.”

Die Entdeckung ihrer Grisha-Kräfte ist dann auch wie ein Erweckungserlebnis für sie: „Suddenly, lots of things seemed easy. I slept deeply and dreamlessly … Food was a revelation.“

Diese Entwicklung kann meiner Meinung nach als Depressionsmetapher gelesen werden. Alina muss anfangen, sich selbst zu akzeptieren, um ihren tiefen Zustand der Erschöpfung zu überwinden und überhaupt wieder Freude oder Lebensmut zu empfinden. Mehr noch, sie wird metaphorisch “neu geboren”, als sie sich selbst akzeptieren lernt: „It was as if that moment in Baghras cottage was my first full breath and I had awakened into a new life.” Besonders in diesem Kontrast von Vorher zu Nachher wird Alinas Kampf mit sich selbst deutlich: Zuerst die totale Erschöpfung, hinterher sind die banalsten Alltagsdinge eine Offenbarung.

Alina braucht keine männliche Anerkennung für ihre Weiterentwicklung

Ich finde diese Formulierungen sehr stark und gut gewählt. Dieser Bezug zu einer psychischen Krisensituation gibt ihrer Figur eine Tiefe, die man bei vielen Fantasy-Heldinnen suchen muss. Noch wichtiger: Die Entwicklung geschieht nicht, weil *irgendein Kerl* Alina Aufmerksamkeit beweist oder ihr hilft, wie es typisch für Young Adult wäre. Nein. Sie schafft diese Entwicklung aus eigenem Antrieb.

Ein berechtigter Einwand ist hier sicher: Alina verabschiedet sich (vorerst) von ihrer kindlichen Fixierung auf Mal, weil Genya und der Darkling ihre Korrespondenz an ihn heimlich unterbinden. Als sie nichts mehr von ihm hört, kann sie ihn loslassen. So gesehen resultiert ihre Entwicklung wieder aus einer Manipulation. Aber ich bleibe dabei: Es ist eine Entwicklung, die sie trotzdem selbst schafft. Sie zieht die richtigen Schlüsse aus einer schwierigen Situation. Schließlich hatte Mal sie jahrelang ignoriert, ihre Freundschaft als selbstverständlich hingenommen. Sie hätte ihn schon vor Jahren loslassen müssen. Dass sie jetzt für sich selbst einsteht und aufhört, ihr Lebensglück an ihm festzumachen, ist ja trotzdem eine positive Entwicklung für ihre Figur.

Alinas Arbeit an sich selbst in diesem Moment kann daher gut als Metapher für therapeutische Arbeit gelesen werden, die sie selbst, ohne äußere Hilfe, vornimmt. (Im Gegenteil: Später erfahren wir ja, dass eigentlich alle Figuren um sie herum versuchen, sie zu manipulieren mit dem Ziel, sie klein und abhängig zu halten.) Sie kann sich selbst endlich annehmen und empfindet ein großes Triumphgefühl darüber: „I wanted to laugh, to sing, to shout. At last, there was something that belonged wholly and completely to me.“ Daher ist gerade dieser Entwicklungsschritt Alinas, weg vom kleinen verängstigten Mädchen zur selbstbewussten Frau, mit der wichtigste in der ganzen Trilogie. Das zeigt, dass sie in puncto „Stärke“ nicht hinter anderen Frauenfiguren wie Zoya, Inej oder Genya zurücksteht.

Buchcover "Shadow and Bone", "Siege and Storm", "Ruin and Rising"

© Orion Children’s Books

Antiklimax: das männliche „love interest“ als Motivation

Nach dieser tollen Selbstermächtigung meint es der Plot in Shadow and Bone leider nicht besonders gut mit Alina. Denn: Sie kann sich zwar glücklicherweise vom Einfluss des Darklings befreien. Der Romance-Plot will es dann aber, dass sie den Rest ihres Handlungsbogens um das Wohlwollen ihres anderen „love interests“ buhlt, Mal (das trifft nicht nur auf Shadow and Bone zu, sondern auch noch auf Teile von den Folgebänden Siege and Storm und Ruin and Rising).

Dieser Schlag sitzt tief, denn sie war doch eigentlich schon so viel weiter! Ihre anfängliche naive Verliebtheit in Mal (oder den Darkling) kann man noch getrost auf Young-Adult-Genrekonventionen schieben. Aber Alinas weitere Abhängigkeit von Mal schwächt ihre Figur leider sehr. Einen Großteil ihrer Handlungsmotivationen in der zweiten Hälfte von Shadow and Bone wird darin begründet, dass Alina Mal retten will. Bei jedem Konflikt (auch in Siege and Storm) nimmt Alina sofort die Schuld auf sich. Sowieso fühlt sie sich konstant schuldig Mal gegenüber, weil sie es eben *gewagt* hat, ein eigenes Leben abseits von ihm zu führen.

Hier noch ein paar Beispiele: Bei ihrer gemeinsamen Suche nach Morozovas Hirsch straft Mal Alina z.B. die Hälfte des Wegs über mit Nichtachtung, weil er eifersüchtig auf ihr neues Leben ist. Aber Alina hat nichts Besseres zu tun, als sich Mal gegenüber wieder minderwertig zu fühlen: „I worried that Mal regretted his decision to come after me.“ Später, als Alina Mal im Gefängnis besuchen darf und sie (vorgeblich) ihre letzten gemeinsamen Stunden miteinander verbringen, ist ihr dringendstes Bedürfnis, ihm zu versichern, dass sie nie Sex mit einem anderen Mann hatte: „Mal, what the Darkling said in the glade about … about him and me … I didn’t … I never …“ Und sie kann sich erst dann weniger schuldig fühlen, als er sie beruhigt.

Ein weiteres Beispiel aus Siege and Storm wäre, wie Alina Mals Erleichterung sieht, als sie Nikolais Heiratsantrag ablehnt und sich dann deswegen noch *schuldig* fühlt, dass er Angst um seinen Anspruch auf sie hatte. Dabei haben sich die Männer in der Szene um sie gestritten wie um einen Knochen und sie kein einziges Mal nach ihrer Meinung gefragt. (Was Alina am Ende der Szene einzufordern versucht, aber erfolglos.)

Das ist so ein trauriges Frauenbild, was Leigh Bardugoan diesen Stellen von ihr zeichnet. Ihre ganze Emanzipation aus der Mitte von Shadow and Bone wird so wieder abgeschwächt, weil sie sich nur über das Wohlwollen ihres „love interests“ definiert. Ihre Entwicklung wird ein Stück weit wieder zurückgenommen, was sehr schade ist.

Alina nimmt in Siege and Storm den Kampf gegen das Patriarchat auf

Was die gesamte Trilogie aber aus feministischer Sicht wieder rettet, ist die Figurenentwicklung, die ab dem zweiten Teil der Trilogie, Siege and Storm, bei Alina einsetzt. Ab dort werden nämlich diese beiden Komplexe miteinander verknüpft: Alinas Kampf um Selbstakzeptanz sowie ihr Emanzipationsprozess gegenüber den Männerfiguren der Reihe. Alina versucht nämlich ab dem zweiten Band, sich aktiv von den männlichen Zuschreibungen um sie herum zu befreien. Das macht sie feministisch wieder interessant und kann als weiblicher Kampf gegen das dargestellte Patriarchat gesehen werden.

Denn in Siege and Storm tritt Alina die Flucht nach vorne an. Wollte sie zunächst aus Ravka fliehen, überwiegt ab der Mitte des Romans der Drang, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, anstatt darauf zu warten, dass ihre Feinde sie einholen: „… I was sick of being shuffled across the True Sea and half of Ravka by people trying to use me and my power.”

Sie setzt sich selbst als Anführerin der Grisha ein und usurpiert damit die Position des Darklings. (Eine der befriedigendsten Stellen der ganzen Trilogie. YOU GO GIRL!) Hierzu ein tolles Zitat: „,I don’t care if you think I’m a Saint or a fool or the Darkling’s whore. If you want to remain at the Little Palace, you will follow me.‘” Damit ergreift sie jetzt an des Darklings Stelle die Agenda über ihr eigenes Schicksal. Die verschiedenen Männerfiguren im Roman haben zu diesem Zeitpunkt natürlich ganz andere Rollen für sie vorgesehen.

Der Darkling will sie ihrer Kräfte wegen wieder unter seine Kontrolle bringen, behauptet aber auch, dass sie für einander geschaffen sind, wie das charismatische Bösewichte mit einem Hang zur Dramatik zu tun pflegen: „,We are alike‘, he said, ,as no one else is, as no one else will ever be.‘“ Damit spielt er natürlich auf ihre außergewöhnlichen, komplementären Kräfte (Schatten-Licht) an und die Tatsache, dass sie beide als besonders machtvolle Grisha geboren wurden und dadurch wahrscheinlich unsterblich sind. Aber er schreibt ihr gleichzeitig eine konkrete Rolle in ihrer potentiellen Beziehung zu: „,You might make me a better man.‘“ – „,You were meant to be my balance.‘“ Er verfolgt nicht nur ausschließlich egoistische Ziele mit diesem Angebot, er belastet Alina außerdem mit der Aufgabe, seine moralische Schuld zu tilgen  – von der wir wissen, dass sie gigantisch ist. (*Schrei-Emoji*)

Mal hingegen kommt mit Alinas Entwicklung zur Grisha-Anführerin – und damit zur selbstbewussten, erwachsenen Frau – überhaupt nicht klar. Er will das anhängliche Mädchen zurück, das noch nichts von seinen magischen Kräften wusste.

Die dritte wichtige Männerfigur der Reihe, Prinz Nikolai, will Alinas Status als „Messiasfigur“ ausnutzen und sie als Königin an seiner Seite wissen, um sich die Sympathien des Volks zu sichern. Dabei macht er zu Anfang keinen Hehl daraus, dass er sie bloß als Figur auf dem Schachbrett seiner politischen Ambitionen sieht. Zum eifersüchtigen Mal sagt er nämlich (im Beisein Alinas): „,Did you think you could just carry off one of the most powerful Grisha in the world like some peasant girl you tumbled in a barn?‘” (Zitat aus Siege and Storm)

Beim erneuten Lesen dieser Szene ist mir ziemlich die Kinnlade heruntergefallen. Und das vom absoluten Sympathieträger Nikolai?? Dieser Satz erscheint sehr respektlos Alina gegenüber und illustriert einmal mehr das chauvinistische Machtgerangel, dem Alina als einzige machtvolle Frauenfigur in der Shadow and Bone-Trilogie ausgeliefert ist. Das ist auch einer der inhaltlichen Mängel der Reihe (aus feministischer Sicht): Sie hat abgesehen von der Heldin nur wenig plotrelevante Frauenfiguren (außer Alina nur Zoya, Genya ist eher Beiwerk, um Alinas Entwicklung zu fördern). Zusätzlich dauert es in der Trilogie lange (eigentlich bis zum dritten Band), bis sich echte Solidarität unter ihren Frauenfiguren entwickelt. (Für mich Voraussetzung für eine wahrhaft feministische Darstellung.) Erst in Ruin and Rising kämpft Zoya an Alinas Seite.

Das Motiv der Selbstakzeptanz: Alina kämpft gegen männliche Projektionen

Gegen diese eben beschriebene Vielfalt an männlichen Projektionen tritt Alina in Siege and Storm jetzt konkret an.

Sie weist Nikolai z.B. in seine Schranken, lehnt seinen Heiratsantrag ab, und fordert stattdessen die Grisha-Armee von ihm. Gegenüber Mal fängt Alina endlich(!) an, ihre eigene Identität zu verteidigen. Er will wieder aus Ravka fliehen, aber sie setzt sich über ihn hinweg, als sie beschließt, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und sich als Grisha-Anführerin einzusetzen. Sie erkennt außerdem an, dass sie durch ihre Kräfte eine andere Person geworden ist und dass sie aufhören muss, sich zu wünschen, sie könnte zu dem Mädchen werden, das Mal will: „I’d spent so many years wishing to be the kind of girl that Mal could want. Maybe that wasn’t possible any more.“ Diese Erkenntnis hat Alina gegen Ende von Siege and Storm (S. 324 in meiner Ausgabe), nachdem Mal einen Wutanfall hatte, weil sie ihre Grisha-Rolle vor ihrer Beziehung priorisiert. Seinem Anspruchsdenken kann sie jetzt zum ersten Mal nüchterne Erkenntnis entgegensetzen. Sie hat sich weiterentwickelt und muss Mal hinter sich lassen.

Interessant ist, dass ihr gleich danach die Worte des Darklings einfallen: „There are no others like us, Alina. And there never will be.“ Anders als im ersten Band ist die Akzeptanz ihrer Grisha-Kräfte hier kein euphorischer Prozess mehr für Alina. Es ist mehr die bittere Anerkennung, dass sie von ihrem „love interest“ Mal grundverschieden ist und sich diese Differenz auch nicht durch schiere Willenskraft überwinden lässt. Es ist ein negatives Abziehbild ihrer Selbsterkenntnis aus Shadow and Bone.

Französische Buchcover der "Shadow and Bone"-Trilogie

Ich liebe die französischen „Shadow and Bone“-Cover ja sehr. © Éditions Milan

Alinas Konflikt mit ihrer eigenen Korruption – was ist „böse“?

Alinas Angst war es nämlich die ganze Zeit, mit der Akzeptanz ihrer besonderen Macht auch böse zu werden. Sie fürchtet ihre eigene Korruption, fürchtet sich davor, so zu werden wie der Darkling. Dafür gibt es aber nur wenig Anhaltspunkte (ja, sie wird machthungrig, sie will sich unbedingt den dritten „amplifier“ verschaffen. Aber von der Grausamkeit des Darklings ist sie trotzdem weit entfernt).

Erst am Schluss von Siege and Storm geht ihre Selbsterkenntnis so weit, dass sie wieder eine befreiende Rolle für sie spielt. Nämlich indem sie auch ihre vermeintlich „dunkle“ Seite anerkennen kann. Beim Showdown in der Palastkapelle, bei dem der Darkling wieder seine ganzen Verführungs- und „gaslighting“-Talente anwendet, um Alina auf seine Seite zu ziehen, wendet sie seine Manipulation gegen ihn selbst. Denn ausgerechnet er hatte ihr die ganze Zeit gesagt, sie müsse lernen, sich selbst zu akzeptieren (siehe die Konfrontationsszenen auf dem Schiff am Anfang von Siege and Storm). Dadurch erreicht sie aber eine neue Macht über ihre Kräfte, die er nicht vorhergesehen hatte, und die ihn beinahe das Leben kostet. Indem sie sich der Tatsache stellt, dass sie ihrem Feind vielleicht doch nicht so unähnlich ist, kann sie ihre Schuldgefühle loslassen und sich so zum zweiten Mal befreien: „I let go of my fear, my guilt, my shame. There was darkness inside me. He had put it there, and I would no longer deny it.” So erlangt Alina ein ganz neues Selbstbewusstsein dem Darkling gegenüber. Sie kann von da an auf Konfrontation gehen, verlässt die Rolle des ängstlichen Opfers, das sich verfolgt sieht. Seinem Verlangen, sie solle auf seine Seite wechseln, sie könne ihn besser machen und solle nur noch für seine Entwicklung da sein, lehnt sie damit ebenfalls ab: „You might make me a monster.“ Alina kann sich also selbst annehmen, behält aber ihren moralischen Kompass. Und wenn das keine spannende Entwicklung ist, weiß ich auch nicht.

Zum Abschluss würde ich bei dieser feministischen Analyse gerne noch eine kleine Schippe drauflegen. Denn die Steilvorlage ist zu gut: Lasst uns über die „Hure/Heilige“-Dichotomie in Bezug auf Alina sprechen. Denn ihr Kampf gegen männliche Zuschreibungen können vielleicht am treffendsten mit dem Kampf gegen diese Trope beschrieben werden.

Der “Hure/Heilige“-Komplex und Alina Starkovs Kampf mit diesem Bild

Alina wird in ihrer Trilogie schließlich wortwörtlich vom einfachen Volk als „Heilige“ bezeichnet und als solche verehrt. Die Männerfiguren im Plot übernehmen diese Zuschreibung alle in der einen oder anderen Weise und versuchen so, Alina ihre eigene Interpretation ihrer Rolle im Plot aufzuzwingen.

Denn darum geht es eigentlich bei der Madonna/Hure-Dichotomie: Ein männlicher Blick, z.B. der Protagonist in einem Film oder einem Roman, teilt Frauenfiguren in diese beiden Archetypen ein. Während die unschuldige „Heilige“ für alles klischeehaft „Weibliche“ steht: Sanftheit, Unterwürfigkeit und Mütterlichkeit, wird sie im selben Atemzug von den Männern im Plot als beschützenswert, aber nicht begehrenswert gesehen. Bei der „Hure“ ist es genau anders herum: Sie wird als moralisch verwerflich gesehen, weil sie die klassisch weiblichen Attribute ablehnt und sexuell aktiv ist. Dafür wird sie umso mehr sexuell begehrt. Aber egal, auf welcher Seite die Frauenfiguren in der Handlung stehen: Sie können nur verlieren. Denn die „Heilige“ ist immer zu prüde, die „Hure“ immer zu sexy. Von der „Heiligen“ wird implizit erwartet, dass sie endlich mal „böse wird“ (siehe das Klischee des „good girl gone bad“) und von der „Hure“ wird erwartet, dass sie am Schluss reumütig ihre „Fehler“ bedauert.

Alina versucht, das „good girl“ zu sein

Für Alinas Figur lässt sich feststellen: Sie kämpft von Anfang an mit dieser „good girl“/“Heiligen“-Zuschreibung. Die Logik des Plots drängt sie bereits in diese Rolle, weil sie Licht aufrufen kann und das positive Gegenstück zum Darkling darstellt. Aber zusätzlich perfektioniert sie die Rolle des unterwürfigen „good girl“ bei Mal am Anfang selbst ziemlich gut: Sie bleibt treu wie ein Hündchen, egal, wie oft er sie ignoriert, mit anderen Frauen flirtet oder nicht für sie einsteht, wenn sie von ihren Armee-Kameraden gehänselt wird. Kein Wunder, dass sie die ersten 100 Seiten ihrer Trilogie erstmal nur nach Anerkennung lechzt. Sie hat als Waisenkind nie Zugehörigkeit erfahren und will die Akzeptanz von Mal auf keinen Fall verlieren – ähnlich läuft es dann mit dem Darkling, der ihr gegenüber eine Mentorenrolle einnimmt und dem sie sich verpflichtet fühlt. Alina zwängt sich selbst also ein Stück weit in das „Heiligen“/“good girl“-Bild. Später kommt dann natürlich die fanatische Heiligenverehrung hinzu, die ihr das einfache Volk entgegenbringt. Davon fühlt sich Alina aber komplett befremdet. Heilige sind schließlich die Gottheiten in der Religion von Ravka.

Es wird kompliziert: Alinas Verhältnis zu ihrer Sexualität – erfüllt sie das „good girl“/“Heiligen“-Klischee?

Beim Punkt „Unterwürfigkeit“ kann man also getrost einen Haken setzen. Wie sieht es mit Alinas Sexualität aus? Klassischerweise wird die „Heiligen“-Figur in der Fiktion als desexualisiert (aus männlicher Sicht) dargestellt. Das ist hier etwas komplexer, weil wir ja alles aus Alinas Sicht erleben. Aber man kann sagen, dass der Text ihr lange keine befreite Sexualität zugesteht. Denn diese eine leidenschaftliche Kussszene mit dem Darkling (der erste irgendwie geartete sexuelle Kontakt für Alina) ist natürlich sofort wieder negativ belegt, weil sie danach realisiert, dass er sie emotional ausgenutzt hat. Die stark ungleichen Machtpositionen der beiden Figuren machen „Darklina“ zu einer toxischen Beziehung. Der Darkling erfragt bei der „Make-Out“-Szene in Shadow and Bone nicht ihre Zustimmung. Und sie verharrt die ganze Zeit in der passiven, empfangenden Rolle: „… he was kissing me …“. Es bleibt einfach ein krasser Machtmissbrauch seinerseits. (Erst im dritten Band ändert sich die Beziehung und Alina erlangt sehr viel mehr Machtausgleich.)

Weil Alina gegenüber dem Darkling stark zwiegespaltene Gefühle hat, hat sie es darum aber auch gegenüber ihrer Sexualität, weil er die erste und lange Zeit die einzige Figur ist, die ihre Sexualität überhaupt anspricht. Von Mal ist da nichts zu erwarten, weil er Angst vor ihrer erwachsenen weiblichen Seite hat. Das ist ganz klar. Er will die ganze Zeit das unschuldige Mädchen zurück und findet sie am attraktivsten, wenn sie schwach (körperlich, mental) und leidend ist. Immer, wenn sie an Macht oder Unterstützung dazugewinnt, reagiert er erst einmal mit Ablehnung (z.B. als sie den zweiten „amplifier“ bekommt und diesen bombastischen Macht-Boost auf Sturmhonds Schiff erlebt. Oder als Nikolai ihr Avancen macht). Also auch Mal drängt Alina aktiv in die Rolle des abhängigen „good girl“. Am Anfang sieht er sie aus Egoismus nur als Schwester oder Vertraute, auf jeden Fall asexuell. Aber auch im weiteren Verlauf der Handlung bleibt die Beziehung zu Mal eine kindlich-verklärte und wenig körperliche. Vor allem auch, weil Mal Alina mit aller Kraft als Messiasfigur sehen will, sobald sie aufgrund ihrer Rolle als Grisha-Anführerin unerreichbar für ihn wird. Daher lässt er sich in Ruin and Rising auch dieses alberne Tattoo mit Alinas Sonnen-Logo und der Aufschrift „I am become a blade“ stechen. Nach dem Motto: „Ich will mich als Diener einer Höheren Macht sehen. Du bist kein Mensch mehr für mich, wenn ich dich nicht haben kann, du bist eine Heilige.“ Puh.

Alina Starkov Szenenfoto aus der Serie in Schwarz-Weiß-Gelb

© 21 Laps Entertainment

Die Alina-Zoya-Dichotomie

Aber auch Alina romantisiert ihre Beziehung zu Mal in den ersten beiden Bänden zu einer unschuldigen, reinen Liebe, die sie in starken Kontrast setzt zu der körperlichen und schuldbehafteten Anziehung, die sie gegenüber dem Darkling empfindet. (Denkt an die „tether“-Szene in Siege and Storm, als er sich als Mal ausgibt und sie in ihrem Bett „heimsucht“, um mit ihr rumzumachen! Aaah! Da vermischen sich sexuelles Begehren und Abstoßung/Angst in Alinas Psyche auf interessante Weise. Schade, dass so Alinas Verhältnis zu ihrem eigenen Körper an dieser Stelle weiter problematisiert wird. Die Arme wird aber auch gebeutelt.)

So lehnt sie alles, was mit Sex zu tun hat, erstmal für sich ab und beneidet im Umkehrschluss auch alle Frauenfiguren, die anders mit ihrer Sexualität umgehen. Auftritt: Zoya Nazyalensky! In der ganzen Shadow and Bone-Trilogie wird Zoya gegen Alina ausgespielt. Zoya ist alles, was Alina nicht ist. So macht der Text die Schere auf zwischen der sexuell unerfahrenen und gehemmten Heldin und der verführerischen Antagonistin, die mit ihrer Sexualität kein Problem hat und offen damit umgeht. Schließlich krallt sie sich schon ganz am Anfang von Shadow and Bone Mal für ein One-Night-Stand. Respekt, Zoya.

Wie der Darkling über Alinas „Heiligen“-Rolle denkt, wissen wir natürlich nicht, weil wir seine Perspektive nie bekommen und er so eine absolut beherrschte Figur ist. Wir sehen so gut wie nie hinter seine Fassade. Herauslesen kann man: Der Darkling sieht die Heiligen-Zuschreibung, die die Welt an Alina heranträgt, nur als Mittel zum Zweck. Sie ist ein Asset seiner großen Macht-Inszenierung und soll als „Messiasfigur“ seinen Plänen dienen.

Das einzig Gute, was man an Alinas Beziehung zum Darkling sagen kann, ist: Er zwängt sie nicht in das „good girl gone bad“-Klischee („Wenn du mal aufhörst, so spießig zu sein, mag ich dich.“). Er hat eher den Ansatz: Ich akzeptiere alle deine Seiten, daher solltest du es auch tun. Ok, hier muss das betreffende Zitat her: „,I’ve seen what you truly are‘, said the Darkling. ,and I’ve never turned away. I never will.‘” (*Gänsehaut*) Zumindest behauptet er das.

Schluss mit der Sex-Negativität ab Ruin and Rising

Erst am Ende von Siege and Storm sieht Alina ein, dass niemand einfach nur Schwarz-Weiß gestrickt ist, dass auch sie „gefährliche“ oder „leichtsinnige“ Seiten hat und das gut so ist. Mit dieser Akzeptanz kann sie ihren eigenen Sex-Appeal ja sogar ein bisschen einsetzen, um den Darkling zu provozieren. (Siehe die erste „tether“-Szene von Ruin and Rising.) Daher entwickelt sich Alina gegen Ende ihrer Trilogie von der gehemmten „Heilige“/“Madonna“ hin zu einer komplexeren Frauenfigur. Zusätzlich kann sie sogar ihren Erzfeind als komplexere Figur sehen als zu Beginn: Ab Band 3 erkennt sie die menschlichen Seiten des Darklings und hat Mitleid mit ihm.

Der Dämpfer zum Schluss: Wird Alina Starkov von der Handlung „bestraft“?

Am Ende löst der Alina-Handlungsbogen den Clash zwischen diesen beiden Zuschreibungs-Polen zwischen „Hure“ und „Heiliger“ im Grunde positiv auf: Alina darf diese beiden gegensätzlichen Seiten in sich vereinen. Sie kann sie akzeptieren. Das macht sie zu einer emanzipierten Frauenfigur. Der einzige Dämpfer kommt am Schluss, als Alina ihre Kräfte verliert. Der Text legt die Interpretation nahe, dass sie für ihre Machtgier bestraft wird – so formuliert Alina es ja sogar selbst in ihrem Cameo-Auftritt in Rule of Wolves. Damit drängt die Story seine Heldin in eine schuldbehaftete Rolle, die weibliche Stärke in ein negatives Bild rückt. (Dabei verhilft ihre Hartnäckigkeit ihr ja trotzdem dazu, den Bösewicht der Geschichte am Ende auszuschalten.) Völlig schlüssig lässt sich dieses Ende wohl aber nicht einordnen.

Das war’s! Was haltet ihr von meiner Analyse zu Alina Starkov? Wie fandet ihr sie insgesamt als Figur? Schreibt es mir gerne in die Kommentare!

Mir ist klar, dass man noch viele Aspekte mehr beleuchten könnte, z.B. Alinas Verhältnis zu ihrer Macht oder zu ihrem „Auserwählten“-Status, Alina als positive Anführer-Figur im Gegensatz zum Darkling usw. Das hätte den Rahmen hier aber endgültig gesprengt.

Die nächste Frauenfigur aus dem Grishaverse, die ich beleuchte, wird Zoya Nazyalensky sein! Stay tuned!


Quellen:
Crow Club Pod, besonders die Folge „Alina Starkov, Shadow and Bone’s Protagonist, Saint, Absolute Queen”
Balancing Heroism and Great Villains: Shadow and Bone auf tor.com, zuletzt aufgerufen am 06.06.22
A Gleam Off the Samovar auf nytimes.com, zuletzt aufgerufen am 06.06.22
How A Young-Adult Author Creates Her Russia-Inspired Fantasy-World auf theatlantic.com, zuletzt aufgerufen am 06.06.22
The Good Girl Trope – Why Women Can’t Win, Video-Essay von “The Take” auf youtube.com, zuletzt aufgerufen am 06.06.22
“The Chosen Zero” auf tvtropes.org, zuletzt aufgerufen am 06.06.22


[1] An dieser Stelle nur noch ein kleiner Einschub, denn: Ein paar interessante Insights zu Alinas Figur zu diesem Zeitpunkt der Handlung liefert die Kurzgeschichte „The Tailor“. Diese hat Leigh Bardugo aus Genyas Perspektive geschrieben. Genya sorgt für Mitleid mit Alina, denn im politischen „Haifischbecken“ des „Little Palace“ war sie sowieso auf verlorenem Posten. Genya beschreibt Alina so:

“I can’t help being fascinated by the play of emotion over [Alinas] face. She hasn’t learned to hide what she feels. … happiness, relief, fear … That lack of caution is a novelty at court. … I think she’s so used to being unnoticed that she doesn’t realize how much she shows.”

Alina ist kein Hofleben, keine strategische Verstellung gewohnt und ist so natürlich ein leichtes Opfer für die Manipulationen ihrer Umgebung. Damit zeigt Genya auch auf, WIE ausgeliefert Alina den Umständen wirklich ist. So gesehen sind ihre Minderwertigkeitskomplexe nicht mal vollkommen unbegründet – sie hat einfach keine Chance, die anderen Grisha haben zu viel Vorsprung an Erfahrung und Wissen.


 

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