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„Die Berechnung der Sterne“: Rezension

Werbung/Rezensionsexemplar: Astronautinnen in den fünfziger Jahren? Ja, das hätte sehr gut möglich sein können – für diese etwas vorgezogene Emanzipation von Frauen entwirft Mary Robinette Kowal ein Katastrophen-Szenario, das unserer Klimakrise erschreckend ähnelt. Eine faszinierende Heldin und ein überzeugender Weltenbau hat den Roman für mich zum Lesehighlight gemacht.

Buchcover von "Die Berechnung der Sterne"

 

Aber von Anfang an. Lasst mich ein bisschen ausholen, denn dieser Roman ist so komplex, dass ich einiges zur Erklärung voranschicken muss:

Bei dem preisgekrönten Roman Die Berechnung der Sterne (im Original: The Calculating Stars), auf Deutsch erschienen am 2.1.2022, handelt es sich um Science-Fiction, die einen alternativen Geschichtsentwurf vorlegt. Im Jahr 1952 wird die Ostküste der USA von einem Meteoriteneinschlag getroffen. Protagonistin Elma und ihr Mann Nathaniel erleben durch einen glücklichen Zufall den Einschlag „nur“ aus einiger Entfernung mit. Ihr Zuhause existiert nicht mehr, der Einschlag verursacht verheerende Erdbeben und Brände, die einen Großteil der US-Ostküste zerstören. Hunderttausende Menschen sind tot oder auf der Flucht. Elma und ihr Mann arbeiten bei der NACA (einem Abziehbild der NASA), er als Ingenieur, sie als Mathematikerin. Elma berechnet: Der Meteoriteneinschlag wird das Weltklima für immer verändern. In 50 Jahren könnte es auf der Erde zu heiß sein, um auf ihr zu leben.

Das ist die dramatische Ausgangssituation, die die ersten paar Kapitel des Romans umfassen. Danach macht der Roman einen Sprung von vier Jahren ins Jahr 1956. Die NACA ist inzwischen fieberhaft dabei, ihre Raketentechnik voranzutreiben. Der „Wettlauf ins All“ ist jetzt nicht mehr dem Kalten Krieg geschuldet, sondern ist hier ein Wettlauf mit der Zeit. Man will so schnell wie möglich Menschen ins All schicken und die Nachbarplaneten der Erde erkunden. Diese sollen, wenn möglich, als Kolonien für die Menschheit bewohnbar gemacht werden.

Vergessene Heldinnen der Geschichte: „menschliche Computer“ in Die Berechnung der Sterne

Elma ist bei diesen Entwicklungen hautnah dabei. Sie berechnet als „menschlicher Computer“ die Flugbahnen von Raketen und hilft so beim Raketenbau und bei der Durchführung von Raketenstarts mit. Erste IBM-Computer gibt es zwar schon, aber die funktionieren noch nicht richtig. So müssen die meisten Berechnungen mit Rechenschieber, Stift und Papier gemacht werden. Interessant ist, dass diese Tätigkeit im Roman von der NACA als „minderwertig“ eingestuft wird, was so auch in der Realität geschah (ähnlich wie später beim Coden). Deshalb wird sie einzig von Frauen ausgeführt, weil sie mehr als „notwendiges Übel“ eingeschätzt wird. Die Männer machen inzwischen die „wichtigen“ Sachen, also die Raketen entwerfen, die später ins All geschickt werden. Diese Trennung zwischen Mathematik = weiblich und Ingenieurwesen = männlich, wie sie im Roman bei der NACA betrieben wird, wirft ein interessantes Licht darauf, wie willkürlich Rollenzuschreibungen sind – auch in der Realität und auch heute noch.

Aber Elma war im Zweiten Weltkrieg auch Pilotin. In Europa hat sie Transportflüge gemacht. Daher ist sie selbstverständlich ganz wild darauf, dass auch Frauen beim Weltraumprogramm aufgenommen werden – wozu sich die NACA aber nicht veranlasst fühlt. Frauen werden als „zu schwach“ und „zu emotional“ eingeschätzt, um als Astronautinnen arbeiten zu können.

So sind die dargestellten gesellschaftlichen Konflikte die gleichen, wie sie es in der Realität in den 1950er Jahren in den USA waren: Frauen werden systematisch klein gemacht und benachteiligt. Außerdem herrscht immer noch die Rassentrennung vor, bei der Schwarze Amerikaner*innen von Weißen diskriminiert werden. Diese Konflikte, wie man sie als fleißiger Seriengucker z.B. aus „Mad Men“ kennt, werden hier auf sehr reizvolle Weise mit einer dystopischen Grundstimmung verbunden.

Elma als feministische Heldin

Die Charakterisierung seiner Hauptfigur Elma York ist dem Roman besonders gelungen. Elma ist gleichzeitig Außenseiterin und Insiderin in einer speziellen Gruppe: Sie kann als weibliche Mathematikerin zu ihrer Zeit natürlich als Besonderheit gelten, hat aber die anderen Computer-Frauen und die Ex-Pilotinnen als Mitstreiterinnen. Den „Bechdel-Test“ finde ich auch für Literatur sinnvoll, denn was bringt eine Heldin, die keine Frauensolidarität vorlebt? Die Berechnung der Sterne hat den Test auf jeden Fall bestanden. 

Erst nach und nach werden im Roman Elmas Brüche deutlich: Sie hat psychische Probleme, steht unter enormem Druck – mehr soll hier nicht verraten werden. Aber auf diese Weise bekommt die selbstbewusste Heldin einige Schwächen, die man auf den ersten Blick nicht vermutet hätte. Sie haben bei mir auf jeden Fall für einige sehr emotionale Momente beim Lesen gesorgt.

Aus feministischer Sicht ist Elma so toll gezeichnet, weil sie trotz ihrer gelungenen Emanzipation (sie arbeitet schließlich Vollzeit in einer Männerdomäne und das Mitte der 50er Jahre) in sexistischen Vorstellungen von Geschlechtern festhängt. Sie macht sich z.B. Vorwürfe, weil sie den Haushalt vernachlässigt. (Und nimmt damit also automatisch an, dass dies ihre Aufgabe ist, nicht die ihres Mannes.) Sie ist gefangen in gesellschaftlichen Vorstellungen, was „sich schickt“ und was nicht. Das gibt ihr Komplexität und macht sie zu einer Figur, mit der man sofort mitfiebert.

Eine schöne Abwechslung war hier auch, dass die Protagonistin nicht gegen den Widerstand ihres direkten Umfelds, z.B. ihres Mannes, kämpfen muss. Elma wird von ihrem Mann die ganze Zeit bei ihren Ambitionen, Astronautin werden zu wollen, unterstützt. 

Das Worldbuilding in Die Berechnung der Sterne

Mary Robinette Kowal imaginiert – sehr schlüssig – eine etwas nach vorn gezogene amerikanische Raumfahrt-Entwicklung, die eben etwas anders verläuft, als sie es tatsächlich getan hat. Siehe die fehlenden Computer, die durch Mathematikerinnen ersetzt werden. Dadurch ist der Roman voller technischer Details, die unter Umständen etwas abschreckend wirken können. Man kommt aber jederzeit in der Handlung mit. Fachbegriffe wie „g-Kräfte“ und „Trajektorien“ werden so geschickt in den (oft actionreichen) Szenen verwoben, dass ich beim Lesen nie das Gefühl hatte, nichts mehr zu verstehen. (Ein Lob an dieser Stelle an die sorgfältige Übersetzung.)

Gesellschaftliche Auswirkungen des Meteoriteneinschlags werden angerissen (z.B.: es werden unterirdische Wohnungen zum Schutz vor einem erneuten Meteoriteneinschlag gebaut). Ich hätte mir noch ein bisschen mehr Ausgestaltung gewünscht, was die kulturellen Auswirkungen eines solchen Meteoriteneinschlags gewesen wären: Gibt es jetzt plötzlich nur noch dystopische Literatur? Oder Katastrophenfilme? Wie sieht es mit der Popmusik aus? Hätte es trotz der Katastrophe noch den Rock’n’Roll gegeben? (Und: kurze Panik meinerseits: was wäre dann aus den Beatles geworden, wenn nicht? Das kann man noch sehr lang weiterspinnen!)

Kleinere, vielleicht subjektive, Mängel

Das Pacing von Die Berechnung der Sterne schwächelt ein wenig – man hätte gut und gerne 100 Seiten kürzen können. In der ersten Hälfte  des Romans wird etwas zu lange bei den gleichen Problemen verharrt. Ein Zeichen für die etwas zu langsame Plotentwicklung ist auch, dass man von Elmas psychischen Problemen erst etwa zur Mitte des Romans richtig erfährt. Das hätte auch 100 Seiten früher kommen können.

Es gibt außerdem einige zu wenig erklärte Wendungen und auch ein, zwei Logikfehler. Warum ist Elma die einzige, der auffällt, dass der Meteorit eine Klimaveränderung herbeiführen wird? (Das wird zumindest vom Roman so suggeriert.) Aber all das sind kleine Auffälligkeiten angesichts der schieren Komplexität dieses Romans. Schließlich verbindet er die amerikanische Geschichte der 50er Jahre mit Raumfahrttechnik, Mathematik und einem Sci-Fi-Worldbuidling. Ich bin auf jeden Fall auf den zweiten Teil gespannt.

Vielen Dank an den Piper-Verlag für das Rezensionsexemplar.

 

Bildnachweis: © Piper u. pixabay/GDJ

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1 Kommentar

  1. Kia Kahawa 31. Januar 2022

    Das Buch klingt sehr spannend. Vielen Dank für die Rezension.

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