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„Ein wirklich erstaunliches Ding“ von Hank Green: leider nur mittelmäßig

„Die Carls kommen!“ – oder enden sie doch als Rohrkrepierer? Es ist ein wichtiges und hehres Thema, das Hank Green da angeht. Er beschreibt anhand der Entwicklungsgeschichte seiner Protagonistin April May, wie Internetberühmtheit auf die Persönlichkeit wirkt. Er kritisiert Netz-Populismus. Das Ganze führt er anhand einer Sci-Fi-Handlung vor, einer skurrilen Version des „first contact“-Plots. Das alles zeigt nur zu deutlich seine guten Absichten. Sie können nur leider von schwachen Erzählkünsten nicht ablenken. Ursprünglich war Ein wirklich erstaunliches Ding als Graphic Novel geplant gewesen, und ich muss leider sagen: Hätte er mal einen Zeichner gefunden. Einige Argumente dafür, warum der Roman hinter meinen Erwartungen zurückblieb.

Ich habe im Vorfeld ein Rezensionsexemplar des Romans vom dtv-Verlag bekommen, an dieser Stelle vielen Dank dafür.

Mit dem Slogan „Die Carls kommen!“ bewirbt das neue dtv-Imprint „bold“ das Debüt von Hank Green, dem Bruder des berühmten YA-Autors John Green. Der Vlogger hatte die Idee zu Ein wirklich erstaunliches Ding wohl schon länger, jetzt beschloss Hank Green, es seinem Bruder nachzutun und es auch mal mit dem Schreiben (von Fiktion) zu versuchen. Ein Experiment, das zwar ehrgeizig und nach bestem Wissen und Gewissen ausgeführt wurde, meiner Meinung nach künstlerisch aber nicht gelungen ist.

Ein wirklich erstaunliches Ding: Langweilige Charaktere, viel zu viel „telling“

Der einzige herausragende Charakterzug von April May ist: sie ist divers, nämlich bisexuell. Die Behandlung des Themas finde ich auch gelungen, vor allem, weil es so alltäglich beschrieben wird. Aprils Sexualität muss nicht als plot device für Anfeindungen und ganz viel Drama herhalten. Aber: Was bleibt, wenn wir diesen Charakterisierungspunkt abziehen? Nichts. Die Figur besteht nur aus einer großen weißen Fläche, anhand der das Experiment des Internet-Fames ausgetestet wird. Das bisschen an Charakterisierung, das noch passiert, findet nur über Klischees statt. April May ist die stereotype Repräsentantin der Generation Y mit Bindungsangst und Aufmerksamkeitssucht. Und selbst diese Charakterzüge finden nur über ermüdendes telling statt, siehe die humoristische „Liste für den Profi im Vermeiden fester Beziehungen“ aus Kapitel acht. Das zieht sich durch weite Teile des Romans.

Die direkte Leseransprache April Mays an den Leser ist manchmal ganz unterhaltsam („Ihr wisst, was danach passiert ist …“). Aber sie verstärkt den Eindruck noch, dass die Geschichte nicht so recht weiß, wie sie die Protagonistin greifbar machen soll. Da dient die Leseransprache als „Abkürzung“, um die Distanz zu den LeserInnen quasi „mit Gewalt“ zu verringern.

Die Nebencharaktere bleiben genauso blass wie April May, von Maya vielleicht abgesehen. Ein kleiner Versuch, der Protagonistin eine backstory zu geben, geschieht über die ausführliche Vorstellung ihrer Eltern. Diese haben dann aber keine weitere Funktion im Roman. Wie so vieles.

Der Plot! Oh je, der Plot.

Ich wollte den Plot wirklich gut finden. Ich lasse mich gern mal überraschen. Aber bei Ein wirklich erstaunliches Ding gab es einfach wenige Überraschungen, vom Showdown und dem Cliffhanger zum Schluss mal abgesehen. Der Plot liest sich wie eine sehr lange Dokumentation über jemanden, der im Internet berühmt wird und damit klarkommen muss, einschließlich der Anfeindungen von Netzpopulisten. Letztere lösen eine Diskussion um Fremdenfeindlichkeit aus („Sind die Carls friedlich oder nicht?“), ein klarer Bezug zu unserer aktuellen Zuwanderungs-Debatte.

Social-Media-Kritik und Sci-Fi-Handlung: Zu dünn, um einen Plot zu tragen

Man merkt, dass es Hank Green sehr am Herzen liegt, jüngeren Youtube-Stars die Gefahren des Internet-Fames aufzuzeigen und aktuelle politische Themen aufzugreifen. Ja, er analysiert einige Aspekte unserer von Social Media abhängigen Welt – und was diese Abhängigkeit mit unseren Persönlichkeiten macht – sehr klug und genau. Aber dafür hätte er ja auch einen langen Zeitungsartikel schreiben können. Die Geschichte, wie jemand im Internet berühmt wird, reicht einfach nicht aus, um einen fiktionalen Plot über 430 Seiten zu tragen. Das müssten interessante Figuren erledigen. Da es diese aber nicht gab, war es ein sehr zähes Leseerlebnis für mich und ich stand, vor allem in der Mitte, mehrmals davor, das Buch abzubrechen.

Leider kann auch das Sci-Fi-Motiv mit den plötzlich auftauchenden Roboterriesen, den „Carls“ (was schon eine ziemlich coole Idee ist), den Plot nicht tragen. Dafür kommt diese Storyline viel zu spät in Fahrt und gibt auch weniger her als vorher angenommen. Die Carls sind da und sehr lange passiert einfach nichts mehr mit ihnen. Spannender wird’s, als Menschen auf der ganzen Welt verstreut anfangen, von der gleichen fiktiven Welt zu träumen, in der sie bestimmte Rätsel lösen. Eine Botschaft von den Carls? Ein Test? Doch kaum ist diese Entwicklung eingeführt, stagniert sie schon wieder.

Diese Art von Sci-Fi-Plot – Erstkontakt, Rätsel-Träume, Showdown – würde bei einer Sci-Fi-Serie wie Doctor Who gerade mal eine Folge füllen. Auch dieser Handlungsstrang wirkte wie künstlich langgestreckt. Um ihn irgendwie fortzuführen, langweilt uns die Erzählstimme z.B. gegen Mitte des Romans mit Ausführungen dazu, wie eine App zur Analyse der Carl-Träume entwickelt, dann weiterentwickelt wird, wann sich wie viele neue Nutzer anmelden usw. (siehe S. 238 f.) Hätte man sehr viel kürzen können? Eindeutig.

Keine interessanten Konflikte

Die Protagonistin soll als „Mädchen von Nebenan“ dargestellt werden, das dann plötzlich von den außerirdischen Carls zu einer geheimen Mission ausgewählt wird. Das wäre spannend zu lesen gewesen, wenn daraus interessante Konflikte entstanden wären. Aber der einzige Konflikt im Buch war gefühlt Aprils ewiges Jammern „Ich will mehr Klicks!“. Ein, zwei Mal wird der Versuch unternommen, über Liebes-Plots ein wenig Spannung reinzubringen. Aber diese Konflikte werden erst aufgebaut und enden dann im Nichts. Schade.

Fazit

Es wird bei diesem Debütroman nur allzu deutlich, dass Hank Green sein Handwerk (noch) nicht genug versteht. Das kann man ihm auch kaum vorwerfen, es ist sein erster Versuch im fiktionalen Schreiben. Eigentlich sollte Ein wirklich erstaunliches Ding eine Graphic Novel werden, Green fand aber einfach keinen Zeichner, mit dem er sich vorstellen konnte, das Projekt zu realisieren. Beim bildlichen Erzählen wäre weniger aufgefallen, dass der Plot in der Form zu wenig hergibt. Oder man hätte gleich in mehreren Episoden erzählen können, wodurch sich manche Längen hätten vermeiden lassen können.

Aber so bleibt leider nur der schale Eindruck von halbherziger Figurencharakterisierung und schwachem Plotten, das auf 430 Seiten Romanhandlung gestreckt wurde. Sorry, Hank: Das war ein wirklich mittelmäßiges Ding.

Hank Green: Ein wirklich erstaunliches Ding, dtv 2019 (aus dem Englischen übersetzt von Katarina Ganslandt).


Lest die Meinung von anderen Bloggerinnen zum Ein wirklich erstaunliches Ding:

Rezension von Papierplanet

Rezension von Ink of Books

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