Wir treffen uns im Trumpf und Kritisch an der Münchner Freiheit. Hier sehen die Münchner so aus, wie man sie sich vorstellt, wenn man nicht aus München kommt. Rosa Poloshirts, Kaschmir-Pullover über den Schultern. Wir fallen aus zwei Gründen auf: Wir tragen Buntes und unser Gespräch dreht sich nicht um Geld, heiße Schnitten oder heiße Schlitten. Die drei (Jura?-)Studenten neben uns mustern uns mit Vorsicht.
Wir sind aber so vollkommen begeistert von unserem August-Buch, dass es uns auch egal sein kann. „Homegoing“ von Yaa Gyasi gehört, wie wir beide feststellen, zu den besten Büchern, die wir seit Langem gelesen haben. Es fehlt nicht viel zur Schnappatmung, so viel wollen wir so schnell dazu sagen.
Jennifer: Ich finde es diesmal wirklich schwer, denn ich will so viel dazu sagen, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht fangen wir mit dem Aufbau an?
Kathinka: Ja! Den Aufbau finde ich irrsinnig spannend. Obwohl es sich um einen Roman handelt, sind es ja eigentlich vierzehn Kurzgeschichten, die chronologisch erzählt werden. Eine Generation nach der anderen. Parallel wird die Geschichte von zwei Familienzweigen erzählt. Es beginnt mit den beiden Töchtern von Mamee, die sich nie kennenlernen. Ihre Wege kreuzen sich fast in der Burg von Cape Coast – die eine ist mit einem britischen Offizier zwangsverheiratet worden, die andere wird in einem Verlies gefangen gehalten und als Sklavin nach Amerika verschifft. Jedes Kapitel behandelt das Schicksal einer Person.
Jennifer: Beim Lesen des Klappentextes habe ich eine Charlotte Link erwartet. Zwei Zeitebenen, die durch ein Ereignis miteinander verbunden sind. Etwas passiert im 18. Jahrhundert und vier Generationen später wird das aufgedeckt, du verstehst mich schon. Doch es war viel besser. Durch die direkte Fortsetzung der Geschichte von Generation zu Generation konnte man sehen, wie Ängste und Erfahrungen sich manifestieren. Die einzelnen Schicksale sind spannend, und man will eigentlich wissen, wie es weitergeht und manchmal hat man Glück und erhascht in einem späteren Kapitel eine Info über sie, als würde man alte Freunde wiedertreffen.
Kathinka: Die Perspektive, die man als Leser einnimmt, macht diesen besonderen Aufbau so toll. Man kennt ja als Privatperson die Generation der Eltern und der Großeltern. Mit viel Glück auch noch die Urgroßeltern. Im Gegensatz zu den USA, wo Herkunft eine große Rolle spielt, weil jeder Vorfahren aus aller Herren Länder hat, sind wir hier in Deutschland ja relativ gefestigt in unserer ‚nationalen Identität‘, was auch immer das bedeutet. In „Homegoing“ habe ich das erste Mal verstanden, warum Ahnenforschung wichtig sein kann. Am Anfang steht ein Trauma, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. In der letzten Generation wird es dann aufgelöst. Auf meiner Ausgabe bezeichnet Zadie Smith das Buch als ‚healing‘ und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie dieses große Thema der Sklaverei und der Ausbeutung Afrikas durch den weißen Mann am Ende heilsam sein kann, ohne zynisch zu wirken. Aber tatsächlich geht es der Autorin nicht darum, eine Geschichte der Sklaverei zu schreiben. Es geht um das private Trauma. Und deswegen ergibt sich auch der Anfang und das Ende. Am Anfang beider Familienzweige steht das Trauma. Am Ende wird das Trauma bewältigt.
Jennifer: Tatsächlich habe ich das auch so aufgeschrieben! “Homegoing” ist die Geschichte der Sklaverei anhand eines Familientraumas. Ich empfand das Besondere vor allem darin, dass man über Generationen hinweg die gleichen Kreisläufe gesehen hat: Der erste ist die eigene Identität: Wer bin ich und wo gehöre ich hin/dazu. Der zweite: Gewalt. Gewalt in der Familie, von außen und gegen sich selbst. Durch diese vielen Perspektiven und die unterschiedlichen Zeitpunkte sind die Auswirkungen von Rassismus und Sklaverei viel eindringlicher wahrnehmbar, als wenn man das einfach nur deskriptiv oder historisch schildert. Das Buch ist sprachlich eindringlich, aber durch die 3. Person bietet es auch eine gewisse Distanz.
Kathinka: Wäre der Roman in der ersten Person erzählt worden, bräuchte es ja auch vierzehn individuelle Erzählerstimmen, weil jeder Charakter so besonders ist. Das hätte es deutlich schwerer gemacht, in der Geschichte zu bleiben. Ich war am Ende jedes Kapitels traurig, dass es vorbei war. Aber zum Start des neuen Kapitels war ich sofort in der nächsten Geschichte.
Jennifer: Jetzt fällt mir gerade noch ein, Identität, die über Generationen hinweg weitergetragen wird, bricht ab, als es nach Amerika geht. Die afrikanische Seite weiß viel mehr über Familie und ihre Vergangenheit, hat Vorsehung über Ahnen etc. In Amerika weiß man noch, was die Generation vor einem gemacht hat.
Kathinka: Ahnenforschung ist eben Luxus. Nur wenn man Zeit und Kraft übrig hat, kann man sich mit so einem Thema befassen. In Afrika führen die Familien ein einfaches Leben, die Geschichten werden von Generation zu Generation weitergegeben. Aber die existentielle Angst, die die Sklaven in Amerika erleben, führt dazu, dass sie sich keine Gedanken zu ihrer Herkunft machen können.
Die drei Studenten brechen auf. Vielleicht sind sie doch zu irritiert von uns. An ihre Stelle kommt ein älterer Herr, der interessiert zuzuhören scheint, als wir versuchen, die großen Themenkomplexe des Buchs zu identifizieren. Wir wissen aber jetzt schon, dass wir leider nicht über alles sprechen können. Familie, Identität und Zugehörigkeit, Heimat, Sklaverei, Segregation, Rassismus …
Jennifer: Gewalt.
Kathinka: Religion.
Jennifer: Interessant, auf Religion bin ich gespannt, das hatte ich jetzt nicht als zentrales Element genannt. Dann erzähl mal, wieso siehst du Religion als zentrales Motiv?
Kathinka: Ich hatte den Eindruck, dass die Emanzipation der Afrikaner durch Religion angeregt wird. Es wird viel über den weißen Gott gesprochen und die Unterschiede zu den afrikanischen Gottheiten. Kojo sagt beispielsweise: „The white man’s god is just like the white man. He thinks he is the reason he is god instead of Myame or Chukwu or whoever is because we let him be. We do not fight him. We do not even question him. The white man told us he was the way, and we said yes, but when has the white man ever told us something was good for us and that thing was really good?“ (S. 123) Das ist das erste Mal dass diese Passivität angesprochen wird. Und Akua, die in einer Missionarsschule aufwächst, sagt: „If God was so big, so powerful, why did he need the white man to bring him to them? Why had her mother run to these missionaries, these white people, out of all people? […] Whenever she asked the Missionary these questions, he refused to answer.“ (S. 186) Man merkt, wie das Denken umschwingt. Es wird auf einmal hinterfragt, was der weiße Mann sagt.
Jennifer: Ich habe mir diese Stellen auch angestrichen und eine weitere, aber eher weil ich es interessant finde, dass man sagt: der Gott den du dir aussuchst, sagt mehr über dich aus, als über ihn.
Kathinka: Wir steigen natürlich nicht tief in das Thema der Religion ein. Aber seine Religion ist das, was den weißen Mann entlarvt. Mein Lieblingszitat aus Yaws Kapitel dreht sich genau darum: „Yaw wasn’t certain he believed in forgiveness. He heard the word most on the few days he went to the white man’s church with Edward and Mrs. Boahen and somethimes with Esther, and so it had begun to seem to him like a word the white men brought with them when they first came to Africa. A trick their Christian had learned and spoke loudly and freely about to the people of the Gold Coast. Forgiveness, they shouted, all the while committing their wrongs. When he was younger, Yaw wondered why they did not preach that the people should avoid wrongdoing altogether.“ (S. 237)
Yaw sieht sich einen der zentralen Werte, das Vergeben, an und wundert sich, warum das Vergeben wichtiger ist als das Vermeiden von falschem Handeln. Dann bräuchte man das Vergeben gar nicht mehr. Dass ein Kind, das sich einfach nur Fragen stellt, diese Heuchelei so einfach entlarvt, ist bezeichnend.
Jennifer: Ich weiß, es passt gerade nicht, aber ich glaube wir haben einen Themenkomplex bei “Homegoing” vergessen und das ist Liebe. Nicht nur romantische. Effi sagt in etwa, dass Lieben keine einfache Sache ist, und nach dem Lesen dachte ich, das ist ein Satz, der auch für das Vergeben gilt. Als ob eine Entschuldigung alle Gräueltaten wett macht, und da kommt für mich die Aktualität ins Spiel: Heute werden ständig alltäglich rassistische und frauenfeindliche Kommentare gemacht und man erwarte, dass die Betroffenen das verzeihen, „weil es nicht so gemeint ist“ – als sei es so ein einfacher Akt.
Kathinka: Obwohl die Liebe kein einfacher Akt ist, ist sie aber genau das, was die Generation verbindet. Denn im Akt der Liebe entsteht die nächste Generation. Nur so werden die Kapitel zusammengehalten. Manchmal ist es auch nur der Akt, ohne Liebe, aber dann haben wir immer noch die Elternliebe zum Kind, die ein zentrales Verbindungsglied ist. Mit dieser Liebe wird das Trauma weitergegeben. Dazu muss ich auch gleich noch was sagen, sonst vergesse ich es. Die offensichtlichen Traumata sind natürlich das gewaltsame Herausreißen und Verschifftwerden in die Sklaverei und die Besatzung des eigenes Landes. Aber die Autorin verpackt das anders und zwar als Angst vor Feuer und Wasser. Ersteres als Angst vor dem Weißen, der das eigene Land ‚niederbrennt‘, und das andere das Trauma der Überschiffung nach Amerika. Das Motiv wird in “Homegoing” auch in einer afrikanischen Legende aufgegriffen: „In my village we have a saying about seperated sisters. They are like a woman and her reflection, doomed to stay on opposite sides of the pond.“ (S. 39) Der Pond ist natürlich hier der Atlantik. In den beiden Elementen, Feuer und Wasser, manifestieren sich die Familientraumata.
Jennifer: Da gebe ich dir absolut recht. Deswegen fand ich das Schlussbild so schön, als die beiden Familienstränge aufeinander getroffen sind und sich erst dem Feuer und dann dem Wasser gestellt haben. Ein symbolischer Akt: Wir überwinden das, schauen nicht mehr zurück. Es ist das, was wir die ganze Zeit gemacht haben beim Lesen: Wir schauen in die Zukunft und „vergessen“ die gewaltsame Vergangenheit. Apropos gewaltsam, wie bewusst hast du wahrgenommen, dass in jedem Kapitel jemand Gewalt erfährt? Entweihung, Zwangsheirat, Sklaverei, Machtlosigkeit. Später wird an einer Stelle gesagt, dass es nicht um die Sklaverei an sich geht, sondern darum, wer die Macht hat. Und das ist auch beim Feminismus so, die Unterdrückung der Frau ist nur eine Form der Frage: Wer hat hier die Macht?
Kathinka: Ja, das habe ich auch wahrgenommen. Ich weiß nicht, ob es dir auch so ging, aber ich hatte immer die naive Hoffnung, wenn es mit der Sklaverei vorbei ist, wird es besser. Aber es entstehen immer neue Missstände aus den alten Machtgefällen. Das körperliche Leid nimmt ab, aber das seelische nimmt zu. Trotzdem wird das absolute Leid weniger. Bis zur letzen Generation, die kein körperliches Leid mehr erdulden muss. Und da hatte ich das Gefühl, dass es mir so ging wie der Menschheit allgemein. Man vergisst bei der Lösung des Traumas die Geschichte. Die Schönheit überlagert das Schlimme. Deswegen muss man sich immer wieder vor Augen führen, was passiert ist.
Jennifer: Ich stimme dir eigentlich zu, aber für mich hat das Leiden nicht aufgehört. Das Trauma hat sich meiner Meinung nach nicht aufgelöst, sondern offener Hass setzt sich in alltagstauglicher Form fort. Indem dunkelhäutige Menschen einen schlechteren Lebensstandard haben und im „besten“ Fall darin, dass ihre Möglichkeiten limitiert werden, im schlechtesten Fall werden sie verhaftet, erschossen und verletzt – und das wird dann hinter fadenscheinigen Erklärungen versteckt.
Kathinka: Allerdings war Sklaverei auch Alltag.
Jennifer: Ja, aber wie du gesagt hast, bei dem Thema Versöhnung oben, sie waren sich bewusst, dass sei was Falsches tun. Als Esi vergewaltigt wird, sagt sie, so wie er sich danach angeschaut hat, wusste er, dass er etwas Falsches gemacht hat. Und so ist es auch mit der Sklaverei. Die Leute wussten, dass es falsch war, aber sie haben sich hinter der Norm versteckt. Während es heute so übergegangen ist in Fleisch und Blut, rassistisch zu sein und es als Fettnäpfchen zu bezeichnen, dass die Leute wirklich denken es sei ok.
Kathinka: Hier sind wir das erste Mal nicht einer Meinung, denn ich bin überzeugt, dass die Leute damals – nicht alle, aber doch die Masse – überzeugt waren, nichts Falsches zu tun.
Wir merken, dass wir viel zu viel zu sagen haben. Eigentlich brauchen wir eine ganze Gesprächsreihe nur zu diesem Buch. Aber es ist unter der Woche und der Abend ist fortgeschritten. Zum Ende müssen wir auf jeden Fall auch noch einmal zu dem Thema Feminismus zurückkehren. Sobald der ältere Herr das F-Wort hört, runzelt er die Stirn. Bis jetzt hat er uns gerne zugehört. Aber Feminismus? Bäh.
Kathinka: Obwohl der Feminismus nicht so offensichtlich ist wie bei anderen Büchern, die wir schon zusammen gelesen haben, halte ich “Homegoing” für absolut feministisch.
Jennifer: Ja, ich auch! Aber mehr in der Hinsicht, wie Gesellschaft Sichtweisen formt und Unterdrückung rechtfertigt. Oben haben wir ja schon darüber geredet, wer hat eigentlich die Macht? Ist es derjenige, der behauptet, er hat Macht, oder ist es derjenige, der dich so lange unterdrückt, bis du selbst denkst, er hat die Macht?
Kathinka: In einem Zitat heißt es: „Her whole life Baaba had beat her and made her feel small, and she had fought back with her beauty, a silent weapon, but a powerful one, which had led her to the feet of a chief.“ (S. 19)
Jennifer: Auch wenn man aus den Zitaten noch mehr rauslesen könnte (woher beziehen die Leute ihre Macht) ist es auf jeden Fall wichtig zu betonen, dass Frauen damals nur aus Schönheit Macht hatten. Frauen waren entweder die Schönen oder die Verrückten. Positiver oder negativer Sexismus sowie das alte Motiv der Hysterie.
Kathinka: Ich habe noch einen ganz anderen feministischen Punkt und zwar: Diese gesamte Geschichte existiert auf Grund von Frauen: Maame gebärt zwei Töchter. Diese beiden sind jeweils der Ausgangspunkt der Familiengeschichten. Dem ganzen Roman “Homegoing” liegt also das Schicksal zweier Frauen und deren Traumata zugrunde. Normalerweise wird Geschichte von Männern gemacht. Hier wird sie von Frauen geschrieben. Und das ist ja wohl hochgradig feministisch!
Das ist ein so schönes Schlusswort, dass wir hier abbrechen. Den älteren Herrn haben wir in den letzten Minuten noch vergrault. Vielleicht wollte er aber auch einfach nur ins Bett. Es ist noch so vieles ungesagt geblieben, dass wir fast enttäuscht sind. Wir hätten gerne alle Themen behandelt. Aber man muss dieses absolut brillante Buch ohnehin selbst lesen. Kein Gespräch der Welt kann die Schönheit und Klugheit von „Homegoing“ erschöpfend behandeln.
Buchgespräche in Münchner Kneipen
Das Wichtigste zuerst: Wir sind kein Lesezirkel, denn wir sind nur zu zweit. Wir sind eine Lesegerade. Eine feministische Lesegerade. Wir bezeichnen uns nicht als Büchermädels (höchstens als Bücherfrauen) und lesen einmal im Monat gemeinsam ein Buch mit feministischem Bezug, um verschiedene weibliche Stimmen zu einem Thema, das uns sehr am Herzen liegt, kennenzulernen. Dazu gibt’s traditionell Weinschorle.
Jennifer ist Marketingmanagerin, Wahlmünchnerin und Frankfurter Babbel-Dasch. Hat fast so viel Kosmetik wie Bücher. Liebt den Sommer und die Sonne, Politik, Synchronstimmen-Raten und Hörbücher. Das sind Jennys Twitter-Account und ihr Instagram-Account.
Kathinka ist Lektorin, Übersetzerin und Schriftstellerin to be. Physisch in München, seelisch in London. Liebt alles Erzählende. Außerdem Fußballfan, Katzenfrau, Reisende und überzeugte Europäerin. Besucht sie auf ihrem Twitter-Account und ihrem Instagram-Account.
Hallo Sabine,
ich bin gerade über das #litnetzwerk auf dein Blog aufmerksam geworden und kaum bin ich hier gelandet, gab es in meinem Kopf lauter Fragezeichen, weil ich die beiden Damen der Buchgespräche hier, Jenny und Kathinka, höchstpersönlich kenne. (-:
Danke für die Einblicke in dieses Buch, das ich bisher nur aus der Ferne beobachtet habe, und nun auf jeden Fall mal näher anschauen werde beim nächsten Buchladenbesuch!
Viele Grüße,
Ramona
Hi Ramona,
haha, die Welt ist so klein! Ich habe mit Kathinka zusammen studiert, wir kennen uns schon ewig 🙂
Super, dass die beiden dich überzeugt haben!
LG, Sabine