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Den Frauen von Troja eine Stimme geben – „The Silence of the Girls“ von Pat Barker

Alles begann zwar mit der geraubten Helena, mehr als ein plot device sind Frauenfiguren in den klassischen Heldenepen trotzdem nicht. Die britische Autorin Pat Barker beschloss, das mit ihrem Roman The Silence of the Girls zu ändern, und erzählt ihre Version der Ilias aus der Sicht von Briseis, Achilles‘ „Kriegsbeute“. Ist das feministische Retelling überzeugend? (Triggerwarnung: Vergewaltigung)

Wie modern und provokant Pat Barkers Herangehensweise an ihre Neuerzählung der Ilias ist, zeigt sich ab Seite 1. Hier wird nicht lange gefackelt, der Leser oder die Leserin mitten hinein ins Kriegsgeschehen und mitten hinein in das Grauen der beteiligten Frauen, allen voran Briseis, geworfen. Damit noch nicht genug: die Ich-Erzählerin (zu Beginn Königin von Lyrnessus, einer mit Troja verbündeten Stadt) führt einen trockenen, sachlichen Erzählton ohne jedes Pathos. Damit macht sie die Kriegsgräuel aber noch beklemmender, es fehlt quasi jede Distanz. Sie verbarrikadiert sich zu Beginn des Romans mit anderen adeligen Frauen in einem Turm und wartet dort auf die Übernahme der Stadt durch den griechischen Feind (angeführt von Achilles). Briseis‘ zunehmende Panik vor dem Unvermeidlichen entfaltet einen unvergleichlichen Spannungssog, dem man sich halb entziehen möchte, zu beklemmend ist ihre sachliche „Berichterstattung“: „The slave women in the basement were dragged out first. Still watching from the roof, I saw a woman raped repeatedly by a gang of men (…)“ (S. 16). Triggerwarnungen hätten diesem Roman ganz gut getan. Es wird aber auch an entscheidenden Stellen auf die Beschreibung von sexueller Gewalt verzichtet. Der Roman ist nicht auf billige Schockeffekte aus.

Obwohl der Schauplatz das antike Troja ist, werden keine antiquierten Vokabeln verwendet (wie es z.B. George R.R. Martin in seiner A Song of Ice and Fire-Reihe tut, um die entsprechende Atmosphäre herzustellen). Die Sprache im Roman ist durchweg modern, das fällt besonders in den Dialogen auf, wenn z.B. der mythische Kriegsheld Achilles britischen Slang des 21. Jahrhunderts spricht: „Cheers, lads“, he said, „She’ll do.“ (S. 22, bei der Begutachtung seiner „Kriegsbeute“ Briseis). Das ist ein Stolperstein, der zunächst die Leseerwartungen verwirrt, an den ich mich persönlich doch bald gewöhnt hatte. Denn die moderne Sprache verhilft zu einem sehr direkten Zugang zu den Figuren, allen voran Briseis und Achilles. Und seltsamerweise macht diese Sprache das Setting authentischer. So umgeht die Autorin geschickt die Gefahr, ihre Erzählung durch eine zu gewollt antikisierte Sprache künstlich erscheinen zu lassen.

Das Psychogramm einer Verschleppten – The Silence of the Girls

Auch die Erzählweise passt sich konsequent an die moderne Herangehensweise dieses Retellings an. The Silence of the Girls erzählt als psychologischer Roman die Geschichte einer Frau, die verschleppt wird und fortan im Kriegslager des Feindes als Konkubine des besten Kämpfers lebt – Achilles. Das Schlimmste dabei ist nicht einmal die sexuelle Gewalt oder Briseis‘ Trauer über den Verlust ihrer Heimat und ihrer Angehörigen. Nein, das Schlimmste ist die Entmenschlichung der gefangenen Frauen im „Rape Camp“. Sie sind nichts weiter als Trophäen, die benutzt und herumgereicht werden.

„I lay there, hating him, though of course he wasn’t doing anything he didn’t have a perfect right to do. If his prize of honour had been the armour of a great lord he wouldn’t have rested till he’d tried it out: (…) That’s what he did to me. He tried me out.“ (S.28)

Sehr eindrücklich beschreibt Briseis auch, wie sich die anderen verschleppten Frauen im Lager an ihre Lage anpassen– alles ehemalige Adelige, alle als Preis einem Offizier (oder wie das in der Antike geheißen haben mag) zugeteilt. Manche sind sogar stolz auf ihre „Besitzer“, sehen sich als ihre Ehefrauen und gebären ihnen mit Freuden Kinder (manche Frauen sind schon über Jahre im Lager gefangen). In Wahrheit sind sie natürlich nur Sklavinnen. Briseis berichtet von all dem, der Traumatisierung der gefangenen Frauen und ihrem verzweifelten Versuch, irgendwie zu überleben, in eindringlichem Ton und ohne je ins Melodramatische abzudriften. Die Einsamkeit der Erzählerin ist dabei fast greifbar. Wie sollen sich die Frauen untereinander trösten? Und wird Briseis nicht von ihren Leidensgenossinnen beneidet? Als Beute des schönen und starken Achilles und ehemalige Königin steht sie allein da.

the Silence of the Girls Iliad Ilias

Gelingt das feministische Retelling?

Bei den homerischen Heldenepen sind Frauen nur dazu da, einen Konflikt auszulösen, sie sind austauschbar und gesichtslos, ein plot device eben. Pat Barker befreit Briseis jedoch aus ihrer Rolle als bloßer Zankapfel. Wer die Handlung der Ilias noch kennt, überspringt den folgenden Absatz.

Wir erinnern uns: in der Ilias geraten Achilles und Agamemnon (der Heerführer der Griechen, aber komplett auf Achilles‘ Kampfkünste angewiesen) in einen sehr kindischen Streit über Briseis. Agamemnon will diese Achilles wegnehmen, weil Agamemnon wiederum gezwungen war, seinen „Preis“, die Priesterstochter Chryseis, abzugeben. Briseis muss in Agamemnons Lager ziehen, Achilles schmollt und verkündet, dann kämpfe er nicht mehr mit. Als die Griechen dabei sind, gegen die Trojaner zu verlieren, gibt Agamemnon Briseis zurück und Achilles kämpft wieder mit. Blöd nur, dass in der Zwischenzeit auch sein bester Freund Patroclos zu Tode gekommen ist.

Briseis ist in The Silence of the Girls kein plot device mehr. Das liegt zum Einen an dem oben geschilderten psychologischen Einfühlungsvermögen in die verschleppte Protagonistin. Das wird zum Anderen überdeutlich, wenn Briseis versucht, konsequent ihre Sicht der Dinge zu erzählen, den Originaltext umzudeuten. Das geschieht, indem sich Pat Barker auf die wenigen Stellen mit Briseis bezieht, die der heutige Leser aus der Ilias kennt, diese Stellen aber neu erzählt. In der Ilias heißt es z.B., Briseis habe geweint, als sie Achilles weggenommen wurde. Briseis aber berichtet in The Silence of the Girls: „Achilles cried as I was taken away. He cried, I didn’t. Now, years later, when none of it matters anymore, I’m still proud of that.“ (S. 110). Endlich bekommt Briseis eine eigene Stimme, kann sich von der männlichen Sichtweise Homers distanzieren. Es ist nichts Romantisches dabei, als Sklavin eines noch so schönen Soldaten Nacht für Nacht zum Sex gezwungen zu werden.

Ähnliches geschieht auch, als sich Briseis an Helena erinnert, die sie als Teenager kennen lernen durfte, und dieser mythischen Nemesis der Griechen eine eigene Stimme verleiht. In der Ilias webt Helena einen prächtigen Teppich, in dessen Bildern der ganze trojanische Krieg erzählt wird. Pat Barker deutet diese Geste als Versuch Helenas um, durch das Weben wieder Herrin ihrer eigenen Geschichte zu werden. (siehe S. 130 f)

Unterbrechung der konsequenten weiblichen Erzählperspektive

Etwa ab der Mitte des Romans werden plötzlich Kapitel eines auktorialen Erzählers eingestreut, der in der dritten Person entweder aus der Sicht von Achilles oder von Patroclos erzählt. Wahrscheinlich ist dies geschehen, um die Trauer Achilles‘ über den Tod seines Freundes Patroclos im letzten Drittel des Romans besser fühlbar zu machen. In der Gesamtkonstruktion des Romans als Retelling der Ilias aus weiblicher Sicht erscheint mir diese Entscheidung aber wenig überzeugend. Dies ist die größte Schwäche des Romans.

Die Kapitel, in denen Achilles um Patroclos trauert, gehören zum Beklemmendsten, was ich je gelesen habe, wohl wahr (ich musste die Lektüre z.T. abbrechen, weil es mich zu sehr deprimiert hat), aber es passt einfach nicht zum Romankonzept. Die Trauer wäre auch noch aus Briseis‘ Sicht eindringlich genug gewesen, zumal auch sie mit Patroclos befreundet war. Er wird als einzig mitfühlendes Wesen im ganzen Kriegslager beschrieben und tröstet die verzweifelte Briseis mehrmals. Die Entscheidung kam also aus keiner Not heraus zustande. So erscheinen diese Perspektivwechsel vielmehr als ziemlich unnötiger Verrat an der ganzen Agenda des Romans.

Eine Anmerkung dazu noch: Der Roman lässt die Beantwortung der alten Frage offen, was die „wirkliche“ Natur der Beziehung zwischen Achilles und Patroclos war. Sie changiert zwischen Hassliebe, Bruderliebe, Verliebtheit und etwas Weiterem, Unfassbarem. Sie ist nicht explizit körperlich, aber trotzdem viel mehr als eine reine Männerfreundschaft (was schon allein am Ausmaß der Trauer Achilles‘ deutlich wird). Agamemnon macht an einer Stelle Scherze darüber, dass Patroclos Achilles‘ „bum boy“ sei (was tatsächlich ziemlich schwach ist, weil es die abwertende Sicht des 21. Jahrhunderts von Homosexualität auf die Antike überträgt – andererseits ist Agamemnon auch der mit Abstand unsympathischste Charakter im Buch). Aber gerade, dass dieser Aspekt offen gelassen wird, verleiht dem Roman eine weitere spannende Facette.

Fazit

The Silence of the Girls gelingt es, die Ilias in dem Sinne feministisch neu zu erzählen, dass marginalisierte Frauenfiguren aus den antiken Originaltexten im Roman eine Stimme erhalten, allen voran Briseis, aber auch andere Sklavinnen, sowie Helena. Die Perspektive Achilles‘, die ab und zu eingeschoben wird, stört allerdings eher und sollte wahrscheinlich nur die Handlung vorantreiben.

Das Ende des Romans ist ein wenig kitschig. Ich verrate hier nichts, bitte schreibt doch in die Kommentare, ob ihr es auch so empfunden habt. Aber allein wegen der eindringlichen Erzählkraft von Pat Barker lohnt sich die Lektüre dieses Romans.

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1 Kommentar

  1. Marion // schiefgelesen 21. Februar 2021

    Den Roman habe ich gerade heute morgen beendet und mein Fazit ist durchwachsen. Ich finde ihn gut lesbar und auch stilistisch gelungen – auch wenn die Leute ständig „oh God“ sagen, worüber ich dann doch jedes mal gestolpert bin. Barker hat die schwierige Ausgangslage, dass sie über alle Frauen alles erfinden muss, aber auch zugleich alles erfinden kann und ich finde, da kommt zu wenig. Über die anderen Frauen erfährt man kaum etwas. Dafür ist Briseis Aufmerksamkeit ständig bei Achilles und Patroclus. Das liegt nun auch in der Natur ihrer Position den beiden gegenüber, aber ich fand, das hat schon sehr viel Raum eingenommen, wenn man bedenkt, dass es eigentlich um die Frauen gehen sollte. So richtig laut sind die ja nicht geworden.
    Und das Ende fand ich auch kitschig, ja 🙂

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