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„Das Mädchen mit der Leica“ – ein (ab)gebrochenes Leben

Werbung/Rezensionsexemplar. Das Mädchen mit der Leica von Helena Janeczek ist eine spannende, wenn auch nicht immer leicht zu konsumierende Mischung aus Roman, Biographie und Geschichtsdokumentation. Über einem Kaleidoskop aus Perspektiven, Schauplätzen und Zeitebenen strahlt immer das Bild von Gerda Taro, der ersten (bekannten) Kriegsfotografin der Geschichte. Um sie geht es.

Nur durch Zufall wurde Gerda Taro (eigentlich: Gerta Pohorylle) wiederentdeckt. Die Kriegsfotografin war Deutsche, ging in den dreißiger Jahren nach Paris und starb 1937 an der Front des Spanischen Bürgerkriegs mit gerade einmal 26 Jahren. Ihre Beerdigung in Paris zog Zehntausende an, bald darauf geriet sie aber in Vergessenheit. Erst sechzig Jahre später wurde in New York ein Koffer mit hunderten von Negativen ihrer Fotos – und die ihres Partners Robert Capa – gefunden. Seitdem wird Taros Werk wieder gewürdigt (z.B. eine Ausstellung im International Center of Photography in New York 2007).

Helena Janeczeks Das Mädchen mit der Leica erschien 2017 auf Italienisch und ist seit dem Frühjahr 2020 auf Deutsch erhältlich. Ich habe vom Berlin Verlag ein Rezensionsexemplar des Romans zur Verfügung gestellt bekommen.

Die Protagonistin in gebrochener Perspektive

Der Kunstgriff bei Das Mädchen mit der Leica ist, dass ihre Lebensgeschichte aus der Perspektive dreier ihrer Weggefährten erzählt wird – und zwar achronologisch. Wir haben die Erinnerungen der besten Freundin, des Liebhabers und des guten Freundes, die wiederum aus verschiedenen Situationen heraus, die Jahre nach Gerdas Tod stattfinden, an verschiedene Episoden aus Gerdas Leben zurückdenken. Das macht das Buch als „fiktionalisierte Biographie“ so spannend. Wir haben immer die Perspektive der jeweils erzählenden Figur, die der Heldin ein Denkmal setzt, die Heldin bewertet, ihre Gefühle zu ihr aufarbeitet. So schlägt sich ihre ehemals beste Freundin Ruth zum Beispiel mit andauernden Schuldgefühlen über ihren Tod hin, der gutmütige Willy Chardack denkt an seine unerwiderte Schwärmerei zu der lebhaften Gerda zurück. Und ihr zeitweiliger Lebensgefährte Georg Kuritzkes versinkt in Wehmut zu seiner Jugendliebe, die ihn verließ, als sie in Paris den charismatischen Fotografen Robert Capa traf. Doch selbst im Krieg in Spanien liefen sie sich noch einmal über den Weg.

Buch-Cover Das Mädchen mit der Leica

© Berlin Verlag, Pixabay

So deckt der Roman Gerdas Schulzeit in den zwanziger Jahren in Leipzig, ihr Exil in Paris nach der Machtergreifung der Nazis als auch ihre Zeit im Spanischen Bürgerkrieg 1936-37 ab – ein Porträt einer unruhigen Epoche, in der die Heldin unverändert und selbstbewusst strahlend hervorsticht. Neben den persönlichen Eindrücken zu Gerda und der Zeitgeschichte transportiert der Roman aber auch immer eine Menge historische Fakten. An vielen Stellen wandelt er sich dann doch zum Sachbuch, zur Biographie. Die erzählenden Figuren springen aber so sehr hin und her  mit ihren Erinnerungen, vom Paris der dreißiger Jahre und seinen politischen Verhältnissen, bis zu den verwickelten Geschehnissen im Spanischen Bürgerkrieg, dass es nicht immer leicht war, ein kohärentes Bild der Ereignisse zu bekommen. Vom Spanischen Bürgerkrieg hatte ich zum Beispiel so gut wie keine Ahnung. Daher waren die geschichtlichen Fakten oft nicht ganz leicht einzuordnen, weil das fiktionale Erzählen eben keinen chronologischen Ablauf zulässt. Ich empfehle vor der Lektüre von Das Mädchen mit der Leica, zumindest den Wikipedia-Eintrag zum Spanischen Bürgerkrieg zu überfliegen.

Gleichzeitig bekommt man als Leser*in noch einen guten Eindruck der Nachkriegszeit in Amerika und in Rom geliefert, aus deren Zeitebene heraus die Figuren Georg und Willy erzählen.

Das Besondere an Gerda Taro in Das Mädchen mit der Leica

Viel Spaß gemacht hat mir, wie sich durch die verschiedenen Erzählperspektiven nach und nach die Heldin herauskristallisiert. Alle drei Figuren teilen eine Faszination für ihre tote Freundin, die aber auch an Hilflosigkeit vor ihrer schieren Willens- und Lebenskraft grenzt. Dieses gespaltene Verhältnis wird sehr schön herausgearbeitet.

Gerda Taro wird in Das Mädchen mit der Leica als moderne Frau geschildert, die ihrer Zeit weit voraus ist. Sie ist sexuell selbstbestimmt, an einer Stelle wird sogar eine Abtreibung erwähnt, die sie in Paris vornehmen lässt. Sie verdient ihr eigenes Geld (zunächst mit Schreibarbeiten) und steigt dann zur erfolgreichen Fotojournalistin auf. Sie machte zum Beispiel Aufnahmen direkt von der Kriegsfront, von Verletzten, die von Sanitätern weggetragen werden, aber auch von Partisanenkämpfer*innen, die sich für den Kriegsdienst bereit machen. Berühmt ist eine ihrer Aufnahmen von jungen Frauen, die Schießübungen machen, um für den Ernstfall vorbereitet zu sein. Einige ihrer Fotografien sind im Buch abgebildet.

Selbstverständlich wurden damals viele ihrer Aufnahmen (die teuer an internationale Medien verkauft wurden) unter dem Namen ihres Partners Robert Capa vermarktet. Umso besser, dass sie seit knapp zwanzig Jahren jetzt endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient.

Vielen Dank an den Berlin Verlag für das Rezensionsexemplar.

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