Was wäre, wenn Sherlock Holmes eine kleine Schwester gehabt hätte? Die genauso genial ist wie ihr berühmter Bruder? Nancy Springers Jugendbuchreihe dreht sich genau um diese Frage. Protagonistin Enola Holmes ist vierzehn und weigert sich, nach dem Verschwinden ihrer Mutter ihr Schicksal in die Hände ihrer älteren Brüder zu legen. Die würden sie nämlich am liebsten in ein Internat stecken, damit sie endlich „zur Lady“ erzogen wird. Mit der neuen Folge der Bakerstreetblogs-Hörbücher als Aufhänger möchte ich euch gerne vorstellen, was diese Neuinterpretation des Holmes-Stoffes so besonders macht. Am Schluss ziehe ich den Vergleich mit der aktuellen Verfilmung (am 23.9. auf Netflix veröffentlicht).
Seid gegrüßt, liebe Mit-Sherlockianer*innen! Zur Veröffentlichung von Teil 4 der Bakerstreetblogs-Hörbücher bei maritim gibt es von mir einen weiteren Artikel aus unserer Blogreihe rund um Sherlock Holmes. Karo von Fiktion fetzt hatte euch schon letzte Woche zur Veröffentlichung des dritten Hörbuchs über ihre Neuentdeckungen aus der Sherlock-Holmes-Welt informiert.
Das neue Hörbuch greift unter anderem meinen Artikel zu weiblichen Versionen von Holmes und Watson auf. Passend dazu geht es heute auch hier um eine feministische Neuinterpretation der SH-Welt: Nancy Springers Enola-Holmes-Reihe, sechs Bände, die zwischen 2006 und 2010 veröffentlich wurden. Es gibt bisher Teil 1-4 in deutscher Übersetzung beim Knesebeck-Verlag.
Das große Thema der Bücher: weibliche Selbstbestimmung!
Enola Holmes ist vierzehn und zu Beginn des ersten Bandes ihrer Reihe, The Case of the Missing Marquess, zu gleichen Teilen verängstigt und empört: Ihre Mutter ist verschwunden, und anstatt dass ihre Brüder Mycroft und Sherlock ihr helfen, versuchen sie sofort, sie „zu ihrem Besten“ zur Seite zu schaffen! Damit die Männer die Sache mal in die Hand nehmen können. Eine Frechheit!
Als Leser*innen wissen wir nämlich längst, dass sich die beiden Gentleman in ihrer viel jüngeren Schwester, die sie kaum kennen, gehörig täuschen. Enola ist zwar noch ein Teenager, kann ihren beiden hochbegabten Brüdern aber geistig schon lange das Wasser reichen. Die Enola-Holmes-Bücher sind aus der Innenperspektive von Enola geschrieben und oft mutet die kühle Willensstärke der jungen Protagonistin beinahe etwas unheimlich an. Von der klischeehaften „Zaghaftigkeit“ der viktorianischen Lady (die Handlung setzt 1888 ein) keine Spur.
So geht es bei Enola Holmes vor allem um die Doppelmoral, mit denen die Geschlechter im 19. Jahrhundert beurteilt wurden – und Enolas Kampf um Selbstbestimmung in einer Welt, die ihr nichts zutraut. Dafür ergreift sie die erstaunlichsten Mittel. Verkleidung, Verstellung, Flucht auf dem Rad über Land, sowie später eine ausgeklügelte Strategie zum eigenständigen Geldverdienen – Enola lässt sich nicht unterkriegen. Vor ihren Brüdern flieht sie vom Landsitz der Familie Holmes ins Moloch von London. Dort wird es selbst für die genialen Deduktionskünste und Aufspürtaktiken eines Sherlock Holmes verdammt schwierig, seine Schwester wiederzufinden.
Das macht die Enola-Holmes-Bücher so befriedigend und selbstermächtigend: wie die Heldin ihren Brüdern immer wieder entwischt und dem so von sich überzeugten Sherlock immer wieder ein Schnippchen schlägt. Jede*r Jugendliche*r kann sich wohl in diese Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Anerkennung der persönlichen Fähigkeiten hineinversetzen. Ich wünschte, ich hätte diese Bücher als Jugendliche zum Lesen gehabt, sie hätten mir als schüchternem Teenager sicher viel gegeben. Aber auch als erwachsene Leserin – und dazu müsste ich nicht einmal Sherlock-Holmes-Fan sein – konnte ich diesem weiblichen Freiheitskampf viel abgewinnen.
Zugleich geht es auch um die Frage nach der Herkunft. Enola versucht über die sechs Bände hinweg, herauszufinden, wo ihre Mutter ist und warum sie sie allein gelassen hat. Auch dieses Thema – neben der Frage, wie sie in Zukunft selbständig leben möchte – spricht wohl erwachsene Leser*innen gleichermaßen wie Jugendliche an (und geben der willensstarken Heldin eine sympathisch unsichere Seite). Zudem stellt die Romanreihe damit auch so aktuelle Fragen wie die nach der “idealen” Mutterschaft.
Enola Holmes führt weibliche Zuschreibungen ad absurdum
Tatsächlich sehr großen Raum nimmt in der Buchreihe die Frage nach Geschlechterzuschreibungen ein. Was ist „typisch weiblich“, „typisch männlich“, welches Aussehen und Verhalten wird von den Geschlechtern in der viktorianischen Epoche gefordert?
Für Frauen legte das Patriarchat in der damaligen Welt ein bestimmtes Idealbild fest, wie ich es auch schon in meinem Artikel zu Frauenfiguren bei Sherlock Holmes beschrieben habe: lieb und demütig sein, sich auf das Häusliche beschränken und wenn möglich dem gängigen weiblichen Körperideal entsprechen, der „Sanduhrfigur“ (schmale Taille, breite Hüften, viel Oberweite). Männer hingegen sind dazu da, für die schwachen Frauen zu sorgen. Sherlock Holmes sagt in Band 4 (The Case of the Peculiar Pink Fan) zu seiner Schwester Enola: “The world is a dangerous place. A woman requires a man to protect her.“
Der Heldin Enola gelingt es in diesem Zusammenhang ganz hervorragend, diese weiblichen Zuschreibungen ad absurdum zu führen. Sie benutzt sie nämlich, um ihre Fälle zu lösen, denen sie sich in jedem Band annimmt.
„Typisch weibliche“ Tätigkeiten und Interessen (wie Handarbeit, Mode, Dekoration) werden von den Männern in den Büchern als oberflächlich und unwichtig abgetan. Enola versteht es jedoch, genau mit diesen verachteten weiblichen Fähigkeiten an Hinweise zu kommen: Sie kann die Blumensprache und die Fächersprache und sie entdeckt Codes in Stickereien. In zumindest zwei Fällen sind dies die Schlüssel zu entscheidenden Hinweisen, und die Blumensprache verwendet Enola in allen Büchern, um mit ihrer verschwundenen Mutter über Anzeigen in Zeitungen zu kommunizieren. Enola weiß: „I knew things Sherlock Holmes failed even to imagine.”
Enola versteht es außerdem, die als bloße Dekoration gedachten weiblichen Kleidungsstücke für sich umzudeuten. In ihrem Korsett versteckt sie einen Dolch, dessen Griffende als Brosche auf ihrem Oberteil prangt, in ihren Hüft- und Brustpolsterungen (mangels weiblicher Rundungen) versteckt sie Bargeld. Die Männer aus Enola Holmes (oder auch reale Männer aus der damaligen Zeit) würden nicht einmal auf die Idee kommen, dass Frauen ihre Kleidung anders nutzen als dazu, dem gängigen Frauenbild zu entsprechen.
In diesem Kontext unverständlich: das „Korsett-Bashing“ bei Enola Holmes
Enola ist keine typische „wilde“ Heldin des Viktorianismus, wie sie sich viele historische Romane ausmalen: Eine junge Frau, die auf ihre Geschlechtsgenossinnen herabsieht, weil die ja so „dumme“ Sachen wie Nähen interessant finden, selber aber lieber auf wilden Pferden reitet und den gleichen Beruf ausüben will wie ihre Brüder. (Seht ihr mich die Augen rollen?) Das ist nicht ermächtigend, das ist frauenfeindlich.
Enola Holmes aber ist nicht so: Sie ist (meistens) solidarisch gegenüber Frauen, sie mag Mode und findet Gefallen an weiblichen Tätigkeiten wie Sticken: „I thought embroidered posies very pretty indeed and wished I knew how to make them. I had even gone so far as to learn a few basic stitches from the Girl’s Own Paper.” (The Case of the Cryptic Crinoline)
Trotzdem tappt das Buch streckenweise in eine Falle, in die viele historische Romane tappen: die Geschlechterverhältnisse früherer Zeiten aus unserer heutigen modernen Warte aus zu beurteilen. Das äußert sich in der Enola-Holmes-Reihe vor allem in der Verteufelung des Korsetts. Dieses Stück weibliche Unterwäsche wird in den Romanen komplett dämonisiert. Kurz bevor Enola nach London wegläuft, wird sie z.B. von einer Gouvernante noch in ein Korsett gesteckt, das unter den Armen einschneidet und ihr die Bewegungsfreiheit nimmt: „I could feel (sweat) trickling down my sides beneath my corset, the steel ribs of which jabbed me under the arms most annoyingly.“ (The Case of the Missing Marquess) Auch von ihrer Mutter (einer erklärten Frauenrechtlerin und Anhängerin der Reformmode) bekam Enola, so erfahren wir aus den Erinnerungen der Heldin, nur Negatives über das Korsett zu hören.
Des Weiteren kommt in den Büchern eine Frauenfigur vor, die sich angeblich ohne Korsett nicht mehr bewegen kann, weil sie durch jahrelanges Korsett-Tragen keine Muskeln mehr im Oberkörper hat. (siehe The Case of the Gypsy Good-Bye)
Da ich mich für das Thema schon länger interessiere und dazu recherchiert habe, weiß ich: das ist, mit Verlaub gesagt, Bullshit. Korsette waren keine Folterinstrumente, die Frauen anlegten, um Männern zu gefallen. Und Männer zwangen Frauen auch nicht zum Korsetttragen, sie taten es aus eigenem Willen. Weil es ein ganz normales Stück Unterwäsche war und eben dazu da war, die Brust zu stützen, wie ein BH heute. Natürlich diente es auch dazu, die modische Linie zu erreichen (die “Sanduhrfigur” mit schmaler Taille). Das heißt aber nicht, dass Frauen sich für die Mode großen Qualen aussetzten.
Denn die wenigsten Frauen trugen nur deshalb ein Korsett, um ihre Taille unnatürlich einzuschnüren. Diese Fehlinterpretation kam vielleicht zustande, weil es noch einige erhaltene Korsette aus dem 19. Jahrhundert gibt, die sehr klein aussehen. Dabei vergisst man, dass die Korsette hinten eine Öffnung im Rücken hatten, die nicht geschlossen wurde, die Taille der Trägerin also um Einiges breiter war als das im Museum ausgestellte Korsett. Zudem konnte man auch damals schon Fotografien bearbeiten und so Taillen extrem schmal aussehen lassen – lest dazu weiter beim Artikel “Fünf viktorianische Modemythen in historischen Medien” von Zeitfäden.
Die meisten Korsetts waren zudem der Trägerin auf den Leib geschneidert. Da schnitt normalerweise nichts ein. Unter dem Korsett trug man ein Hemd, um die Haut zu schützen. Hört sich nicht nach einem Foltergerät an, oder?
Es sind vielmehr unsere modernen Vorurteile, die wir – und die Autorin Nancy Springer scheint da keine Ausnahme zu sein – auf die viktorianische Epoche projizieren. In unserer Vorstellung waren Frauen aus dem 19. Jahrhundert nämlich nur arme unterdrückte Wesen, die sich blind der Mode anpassten und dafür schreckliche körperliche Folgen in Kauf nahmen, weil die Gesellschaft und die Männer sie dazu zwangen. Dabei war dies ein männliche Auffassung, die kolportiert wurde, um Frauen weiter ihren eigenen Willen abzusprechen und sie so zu hirnlosen „Fashion-Victims“ zu machen.
Nein. Frauen konnten sich in Korsetten noch weitgehend normal bewegen und sogar schwere Arbeiten verrichten (denn auch Bäuerinnen und Arbeiterinnen oder Hausangestellte trugen welche). Dazu kann ich das Sachbuch How to be a Victorian von Ruth Goodman empfehlen. Die Historikerin schreibt über die Alltagsgeschichte der Viktorianer und in einem Kapitel ausführlich über die Funktion des Korsetts damals und über ihre eigenen Erfahrungen als langjährige Korsett-Trägerin.
Bei Enola Holmes steht das Korsett leider als – mal mehr, mal weniger ironisch verzerrtes – Symbol für weibliche Unterdrückung. So sehr, dass Sherlock Holmes sogar einmal erklärt bekommt: Seine Schwester Enola habe vor dem Mädcheninternat deshalb so viel Angst, weil sie dort zum Einschnüren ihrer Taille gezwungen würde.
Aha.
Von der sexuellen Doppelmoral, der religiösen Bigotterie, kurz: den tatsächlichen Dingen, die man an der Erziehung von Mädchen aus der Zeit kritisieren kann, wird nichts erwähnt. Hier muss nur das arme Korsett als Schreckgespenst herhalten und das finde ich schade.
Was taugt Enola Holmes als Holmes-Pastiche?
Selbstverständlich wird diese Art der Pastiche nicht jedem Holmes-Fan zusagen, weil wir alles aus einer weiblichen Perspektive präsentiert bekommen. Sherlock und Mycroft sind bei Enola Holmes zwar hochanständige, jedoch stocksteife Viktorianer, deren festgefahrene Auffassungen (besonders über das weibliche Geschlecht) nicht selten vorgeführt werden. Dazu schafft es Enola immer wieder, ihrem Bruder Sherlock zu zeigen, dass er nicht der einzige ist, der seinen Verstand benutzen kann. Daher bekommen wir an vielen Stellen ein ziemlich entzaubertes Bild von Sherlock Holmes zu sehen, ein sehr schönes Beispiel hier:
„In fact, while Sherlock Holmes dismissed the ‘fair sex’ as irrational and insignificant, I knew of matters his ‘logical’ mind could never grasp.” (The Case of the Missing Marquess)
Die Gute daran ist aber: Genau das macht die Reihe als Holmes-Pastiche so spannend. Sherlock Holmes wird als Mensch mit Emotionen (ja!) und Verfehlungen gezeigt. Zuerst sieht er auf seine Schwester herab, weil sie eine Frau ist („Pity the girl’s cranial capacity, Mycroft“, sagt er im ersten Band zu seinem Bruder). Dann entdeckt er aber, dass er Enola unterschätzt hat. Nachdem Enola die Flucht ergriffen hat, leidet er darunter, dass seine kleine Schwester ihm nicht vertraut. Er versteht nicht, dass sie vor dem wegläuft, was er für „ihr Bestes“ hält.
Aus dieser Darstellung folgt ein Spannungsverhältnis zwischen den Geschwistern Enola und Sherlock, um das sich die ganzen sechs Bände der Jugendbuchreihe drehen. Enola hegt eine Art „Angstliebe“ für ihren Bruder, den sie zwar wie einen Helden verehrt, dem sie aber nicht über den Weg traut, weil sie um ihre Freiheit fürchtet.
Enolas Schwärmerei für ihren Bruder liest sich wirklich rührend – für sie ist er der sprichwörtliche Ritter in der glänzenden Rüstung. Sie lässt sich von ihrer Verehrung aber niemals blenden. Sie möchte ihn gerne besser kennen und Zeit mit ihm verbringen. Gleichzeitig weiß sie um seine Vorurteile und geht ihm daher besser aus dem Weg: „He was my hero. He was my nemesis. I very nearly worshipped him. But if he tracked me down, I would lose my freedom forever.” (The Case of the Left-Handed Lady)
Genau diese Zerrissenheit zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach persönlicher Freiheit macht Enola zur idealen Heldin für einen Coming-of-Age-Roman.
Was macht der Film anders? Ein Vergleich mit der Netflix-Adaption
Ich habe mit großer Vorfreude auf die Filmadaption des ersten Enola-Holmes-Bandes gewartet. Sie wurde eigentlich fürs Kino verfilmt, was Einiges erklärt (dazu gleich mehr), aufgrund der Corona-Pandemie dann aber zu Netflix verkauft.
Gleich vorneweg: Der Film wird der Vorlage leider nicht mal im Ansatz gerecht. Er ist streckenweise unterhaltsam und die Darsteller (vor allem Millie Bobby Brown als Enola und Henry Cavill als Sherlock) liefern eine tolle Arbeit ab. Die Heldin ist aber nur ein schwacher Abklatsch der Buch-Enola und auch alle anderen Figurendynamiken sind zu verkitscht, um noch interessant zu sein. Das ist natürlich auch dem Format geschuldet (in einem 120-Minuten-Film kann man viel weniger zeigen als z.B. in einer zehnteiligen Serie). Trotzdem haben sich die Filmemacher (darunter auch der Fleabag-Regisseur Harry Bradbeer) dazu entschieden, aus der komplexen Vorlage einen seichten Hollywood-Blockbuster zu machen.
Das ist wohl das Hauptproblem des Films: Er zieht da ins Komische, wo er ernst bleiben sollte, und trägt dick Emotionen (oder Actionspannung) auf, wo er sich lieber zurücknehmen sollte. Zu ihrer Mutter hat Enola (so wird in Rückblicken erklärt) zum Beispiel eine beinahe symbiotische Schülerin-Mentorin-Beziehung. Als die Mutter verschwindet, scheint das Enola aber gar nichts auszumachen, der Tonfall bleibt fast durch die Bank humoristisch. Das wird immer wieder durch Enolas amüsierten oder genervten Blick in die Kamera, mit dem sie das Publikum direkt anspricht, unterstrichen (sogenannte Durchbrechung der „vierten Wand“).
Was soll das? Zuerst wird das Mutter-Tochter-Verhältnis aus den Büchern überbetont und ins Kitschige gezogen, danach spielt es aber keine Rolle mehr? In den Buchvorlagen besteht die Pointe ja gerade darin, dass Eudoria Holmes aus der ihr vorgeschrieben Rolle ausbricht (genau wie Enola ausbricht): der Rolle der sich aufopfernden, perfekten Mutter. Sie ist eine distanzierte Mutter, aber das wird in den Büchern nicht verurteilt. Enola leidet natürlich unter dieser Kühle. Aber daraus kann dann wieder ein interessanter Konflikt entstehen. Der Film beschränkt sich darauf, Eudoria zu einer Übermutter zu machen, weil für solche Subtilitäten wohl kein Platz war. Was auch noch angemerkt werden muss: Der Film verpasst so die Pointe aus den Büchern, dass Enola trotz emotionaler Kühle alles von ihrer Mutter mitbekommt, was sie für ein emanzipiertes Leben braucht – und dafür muss sie nicht die Fäuste schwingen.
https://www.youtube.com/watch?v=1d0Zf9sXlHk
Warum müssen “starke” Frauenfiguren immer Kampfsport können?
Denn Enola wird in der Filmadaption von ihrer Mutter in der Kampfsportart Jiu Jitsu ausgebildet. Das stilisiert sie zwar ein wenig zum „Mini-Holmes“ (denn der originale Holmes kann auch Jiu Jitsu). Diese Fähigkeit ist aber gar nicht notwendig, um Enola besonders zu machen. Im Gegenteil, es wirkt viel zu plakativ: Der Film kann sich wohl (wie die meisten populären Medien) keine emanzipierte Frauenfigur vorstellen, die sich nicht prügeln kann.
Sehr schade war auch, dass das tolle Spannungsverhältnis von Enola mit ihrem Bruder Sherlock, inklusive Versteckspielen und kreativen Finten ihrerseits, aus dem Film komplett herausgestrichen wurde. Stattdessen gibt es rührselige Szenen ohne jede Tiefe.
Ihr habt es wahrscheinlich erwartet: Auch vor Enolas Figur selbst macht diese Blockbuster-Interpretation der Buchreihe nicht halt. Von der Kreativität, Selbständigkeit und ja, Genialität der Buchheldin bleiben im Film nicht viel übrig. Ihre detektivischen Fähigkeiten werden, wenn überhaupt, nur kurz angerissen, man bekommt kaum einen Eindruck von ihrem Können. Dabei bleibt sie sehr viel abhängiger vom Wohlwollen ihres Bruders Sherlock. Der Film suggeriert, dass Sherlocks Anerkennung der positive Wendepunkt in der Handlung für sie ist. Anschließend muss sie von ihrem hinzugedichteten love interest (Lord Tewkesbury, der im Buch nur am Rande vorkommt) gerettet werden.
Enolas Möglichkeiten als Figur werden nicht im Ansatz ausgeschöpft. Den emanzipatorischen Anspruch bekommt sie allein durch schnittig gefilmte Kampfszenen. Währenddessen übernimmt eine andere weibliche Figur die Aufgabe, Sherlock seine Engstirnigkeit aufzuzeigen, was ich ebenfalls sehr schade fand.
Im Großen und Ganzen bleibt nur übrig zu sagen: Lest die Bücher, den Film könnt ihr euch sparen.
Infos zu den Büchern:
Enola Holmes Mysteries von Nancy Springer, erschienen bei Philomel Books 2006-2010. Die Einzelbände sind:
The Case of the Missing Marquess
The Case of the Left-Handed Lady
The Case of the Bizarre Bouquets
The Case of the Peculiar Pink Fan
The Case of the Cryptic Crinoline
The Case of the Gypsy Good-Bye
Infos zum Film:
Enola Holmes, Regie: Harry Bradbent, Produktion: Legendary Pictures, zu streamen bei Netflix seit dem 23.9.2020.
Die Baker Street Blogs präsentieren stolz: Teil 4 der Hörbuchreihe – darum geht’s:
Alles rund um die spannende Welt der Sherlock-Holmes-Pastiches (Nachahmungen), weibliche Versionen von Holmes und Watson, sowie die oft gestellte Frage, ob Sherlock Holmes denn nun ein Psychopath war oder nicht.
Hörbücher runterladen:
Baker Street Blogs Teil 1
Baker Street Blogs Teil 2
Baker Street Blogs Teil 3
Baker Street Blogs Teil 4
Hi!
Wie angekündigt jetzt der versprochene Kommentar :). Ich gehe ja grundsätzlich davon aus, dass jede*r diese Verfilmung anders wahrgenommen hat, aber ich kann nicht anders, als dir beizupflichten.
Es fehlt in dem Film so vieles, was die Bücher liebenswert macht. Wer die Bücher jetzt nicht kennt, kann das aber auch nicht vermissen … Manches ist angerissen worden, um dann gleich wieder in der Versenkung zu verschwinden, manches dafür einem so plump um die Ohren geworfen worden, dass es schon wieder geschmerzt hat. Ich glaube, was mich mit am meisten gestört hat, war die Tatsache, dass wieder auf Biegen und Brechen Figuren dazu gedichtet wurden, die es im Buch gar nicht gab. So damit jede*r versteht, was das Anliegen des Films ist?
Aber immerhin ein Gutes hat die Verfilmung: Sie ist eine hübsche Werbung für die Bücher – und vielleicht greifen jetzt auch wieder ein paar Leute zu ihnen, die sie vorher gar nicht gekannt haben 🙂 .
Liebe Grüße
Ascari