Das Schöne am Sherlock-Holmes-Universum ist ja, es dehnt sich, wie das reale Universum, stetig aus! Will heißen: Es gibt nichts, was es nicht mit Holmes gibt. Natürlich viele Adaptionen, die vom reinen literarischen Text weggehen wie Comics, Filme oder Hörspiele, aber auch wenn wir bei der Gattung Roman bleiben: „Sherlock Holmes“ ist längst ein eigenes Genre! Die #bakerstreetblogs beleuchten in dieser Ausgabe die sogenannten Sherlock-Holmes-Pastiches, also Roman-Nachahmungen der berühmten Holmes-Geschichten. Dabei frage ich mich: Welche Funktionen haben Pastiches im Sherlock-Holmes-Universum? Was macht eine gute Nachahmung aus?
„Verschollene Geschichten“ von Holmes, Holmes im 21. Jahrhundert, Holmes aus der Sicht von Moriarty oder Mrs. Hudson: Es gibt mehr Arten von Sherlock-Holmes-Pastiches, als man zählen kann. Ich gehe zuerst darauf ein, wie Texte überhaupt mit ihren Vorlagen in Dialog treten, beleuchte unterschiedliche Funktionen bei Holmes-Nachahmungen und stelle zum Schluss einige Pastiches vor, die ich für gelungen halte.
An dieser Stelle wie immer die Erinnerung, auch beim parallelen Artikel von fiktion fetzt vorbei zu schauen. Welche Pastiches mag Karo und warum? Diese Woche bekommen wir außerdem Unterstützung von sabrinasblogwelt, was uns sehr freut!
Was ist eine Pastiche? Oder: Wenn Texte in Dialog treten
Tut mir leid, jetzt wird’s erstmal theoretisch *Ärmelhochkrempel*. Dieses Thema bietet mir eine hervorragende Steilvorlage, um ein bisschen literarisches Nerdwissen unterzubringen. Dieses Mal zum Thema „Intertextualität“.
Das ist nämlich eine Theorie, die für das Verständnis von literarischen Nachahmungen, wie eben hier Sherlock-Holmes-Pastiches, sehr nützlich ist. Sie setzte sich ab den 60er Jahren in der Literaturwissenschaft durch (und hat bis heute mehrere Revisionen erfahren). Das Spannende daran ist die Vorstellung, dass Texte ohne andere Texte nicht existieren können. Sprich: Es kann kein Text entstehen, ohne dass er sich irgendwie auf andere Texte bezieht. Den „Erfindern“ der Intertextualität ging es dabei vor allem darum, die Textintention zu betonen. Der Text sollte für sich allein stehen, es kam nicht mehr darauf an, welche Absichten der Autor mit seinem Text gehabt haben könnte. (Schön zusammengefasst in dem Schlagwort „Der Autor ist tot.“)
Der Autor ist jetzt nur noch eine Art Erzählinstanz (natürlich nicht der Erzähler im Buch), seine Person spielt für den Text aber keine Rolle mehr. Er kann sowieso nur noch das aufgreifen und für sich neu formen, was schon tausende andere Schriftsteller vor ihm gemacht haben. Die Kunst liegt nicht im Neu-Erschaffen, sondern im Neu-Erfinden. Manchmal ist sich der Autor, der Theorie zufolge, nicht einmal bewusst, was er in seinem Text aufgegriffen hat, wovon er beeinflusst wurde.
Intertextualität in der Popkultur
Klingt deprimierend? Ich finde, eher: logisch. Schauen wir uns beliebte Film- oder Literaturgenres an. Wohl jedes zweite Fantasywerk bezieht sich irgendwie auf Herr der Ringe oder Harry Potter. Jeder Krimi setzt sich irgendwie mit Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie auseinander. Es gibt das MCU und tausend andere Franchises, die von Sequels, Prequels, Querverweisen und ironischen Seitenhieben aufeinander leben. Und das Retelling von Klassikern wie Heldenepen (die Ilias z.B.) oder Märchen ist in der Literatur gerade sehr im Kommen. Ich würde sagen, Intertextualität ist mehr denn je ein aktuelles Konzept, um erzählende Medien zu verstehen und zu interpretieren. „Sherlock Holmes“ ist dabei nur das Genre, das hier die tollsten Auswüchse hat.
Gérard Genette, die „Pastiche“ und Sherlock Holmes
Was ist nun eine Pastiche genau? Es gab den Begriff schon seit dem 18. Jahrhundert für Nachahmungen von künstlerischen Werken. Unter Literaturwissenschaftlern ist er vor allem aufgrund der Monografie Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe bekannt. In diesem Werk versuchte ein Wissenschaftler namens Gérard Genette, das Konzept der Intertextualität greifbarer und anwendbarer zu machen. Er schlägt verschiedene Terminologien vor, wie man Beziehungen zwischen Texten beschreiben könnte. Eine Pastiche ist für ihn z.B. ein Text, der den Stil seines Vorbilds aktualisiert, indem er ihn nachahmt.
Konkret: Es müsste also nicht einmal der Name „Sherlock Holmes“ fallen – anhand des bestimmten Erzählstils könnte der Leser erkennen, auf welchen Ursprungstext sich der aktuelle Text bezieht.
Viele Holmes-Nachahmungen sind nicht einmal so abstrakt, sondern nennen die bekannten Hauptfiguren wie Holmes, Watson, Moriarty usw. Darauf kommt es meiner Meinung nach aber nicht an – wichtiger ist, wie überlegt Pastiches bekannte Motive aufgreifen und abändern, wie kreativ sie mit dem Stoff des Vorbilds umgehen. Dazu jetzt mehr.
Was sind Sherlock-Holmes-Pastiches?
Wie letzte Woche in meinem Artikel zum Fandom schon erwähnt: Sherlockians wollen nichts lieber, als noch mehr über ihren Lieblingsdetektiv zu erfahren. Das Hauptwerk ist viel zu schnell ausgelesen und neuer Stoff muss her. Ich selbst bin ziemlich spät zum Pastiche-Lesen gekommen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand zufriedenstellende Nachahmungen schreiben könnte. Zum Glück habe ich mich getäuscht!
Die 56 Kurzgeschichten und vier Romane rund um Sherlock Holmes bieten genug erzählerische Lücken, die schlaue Pastiche-Schreiber füllen können. Es gibt Nachahmungen, die vom jungen Holmes erzählen, bevor er auf Watson traf, oder solche, die sich mit seiner Zeit im Ruhestand als Bienenzüchter in Sussex beschäftigen ?. Sie versuchen, sich explizit in die Chronologie der Originaltexte einzuordnen und „blinde Stellen“ zu füllen. Wieder andere Pastiches greifen die sogenannten „lost cases“ auf, also Fälle, die Watson kurz erwähnt, deren Erzählung er aber nie veröffentlicht hat. Dazu gehört z. B. „the affair of the Vatican cameos“ oder „the colossal schemes of Baron Maupertius“. Watson erwähnt in der Geschichte The Problem of Thor Bridge sogar eine Blechbox im Safe einer Londoner Bank, die vollgestopft ist mit unveröffentlichten Fallgeschichten über seinen Freund Holmes. Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für alle, die sich an einer Nachahmung versuchen wollen.
Was mich an Sherlock-Holmes-Pastiches jedoch interessiert, ist ihre Funktion für die bekannten literarischen Motive, nicht nur für das grobe chronologische Gerüst im Holmes-Kanon. Um mit Genette zu sprechen: Wie wird der Stil, werden bekannte Motive aktualisiert? Mit diesem Vorgehen kann man viel tiefer in den Text einsteigen.
Sherlock-Holmes-Pastiches nach ihren drei großen Funktionen
Ich sehe folgende drei übergeordnete Funktionen bei Sherlock-Holmes-Pastiches:
- „Nie gezeigte Seiten“ an Holmes und Watson beleuchten
- Die Hauptfiguren modernisieren (durch das Setting in der Jetzt-Zeit, durch die Handlung usw.)
- Nebenakteure wie Mrs. Hudson stehen jetzt im Rampenlicht
Alle drei Punkte können natürlich auch gemeinsam vorkommen. Lasst mich konkrete Beispiel anhand meiner liebsten Holmes-Pastiches vornehmen.
Funktion Nr. 1 von Sherlock-Holmes-Pastiches – „nie gezeigte Seiten“
Dr. Watson gibt sich in den Originalgeschichten ja sehr viel Mühe, seinen Freund Holmes als nicht greifbares Mysterium erscheinen zu lassen. Watson erfährt, genau wie der Leser, immer erst am Schluss durch den genialen Holmes von der Auflösung des Falls, vorher bleibt er ahnungslos. Holmes und seine Schrullen (plötzliches Verfallen in Melancholie, stundenlanges Geigespielen etc.) bleiben unberechenbar für den treuen Watson, er hat sich nur damit abgefunden. Als Fan will man natürlich trotzdem hinter die Kulissen schauen. War Holmes wirklich so ein Übermensch ohne jede Gefühlsregung? Gab es nie Streit zwischen dem Doktor und dem Detektiv? Wie stand es wirklich mit Holmes‘ Drogensucht?
Holmes, der „Automat“ – oder doch nicht?
Viele Pastiches verlassen daher das Original-Setting im viktorianischen (oder edwardianischen) London nicht und versuchen, ein Licht auf das Rätsel Sherlock Holmes zu werfen. Das geschieht oft, aber nicht immer, über besonders dramatische Fallgeschichten. In extremen Situationen zeigen Holmes und Watson Reaktionen, die sonst nicht im Holmes-Kanon vorkommen. Holmes wird aus der Fassung gebracht und zeigt doch Gefühle, was er in den Originalgeschichten so gut wie nie tut. Ein Beispiel dafür ist die wunderbare Pastiche The House of Silk von Anthony Horowitz (die sogar vom Arthur-Conan-Doyle-Nachlass als „Sherlock Holmes novel“ anerkannt wurde). Holmes setzt hier, wie gewohnt, seine Baker Street Irregulars ein, das sind Straßenjungen, die für einen kleinen Lohn Informationen für den Meisterdetektiv beschaffen. Dabei kommt ein Junge zu Tode (mehr verrate ich nicht), weil Holmes seine Gegner unterschätzt hat. Das bereut er zutiefst und wird von Schuldgefühlen geplagt: „He had sunk into the corner of the hansom and for much of the way he sat in silence, refusing my eyes“. (House of Silk, S. 129). Wann hat man das schon mal gesehen? Ein Holmes, der sich vor Watson schämt?
Eine komplexe Freundschaft – die verschiedenen Facetten in Lyndsay Fayes Holmes-Pastiches
Auf die komplizierte Freundschaftsbeziehung zwischen Holmes und Watson kann die Autorin Lyndsay Faye ein schönes Licht werfen. Sie hat bisher 15 Kurzgeschichten im Stil von Arthur Conan Doyles Holmes-Geschichten geschrieben (zusammengefasst im Sammelband The Whole Art of Detection. Lost Mysteries of Sherlock Holmes).
Sie macht z.B. sehr gut nachvollziehbar, wie Holmes die Geduld seines Mitbewohners strapazierte und dass deshalb wohl nicht immer eitel Sonnenschein in der Baker Street 221b herrschte. Ein Konfliktpunkt zwischen Holmes und Watson ist schon im Original immer das Drogenlaster von Holmes. Er spritzt sich Kokain, wenn er das Nichtstun zwischen zwei Fällen nicht mehr ertragen kann. Watson fürchtet als Mediziner natürlich um die Gesundheit seines Freundes.
In Fayes Geschichte „The Adventure of the Vintner’s Codex“ hat Holmes nun so schlechte Laune, dass er trotz Watsons Versuche, ihn abzulenken, zur Spritze greifen will. Dabei ist Silvester und Watson hätte natürlich lieber, dass Holmes sich nicht unter Drogen setzt. Watson will schon die Flucht ergreifen und den Abend mit jemandem verbringen, der netter zu ihm ist, als Holmes sich tatsächlich bei ihm „entschuldigt“: „ I should prefer not to lose your company, provided you can tolerate mine.“ (The Whole Art of Detection, S. 50) Das ist quasi das Höchste an Liebesbezeugung, das man von Holmes erwarten kann – und für Sherlockianer eine unglaublich rührende Szene.
Insgesamt gelingt es Lyndsay Faye mit ihren Pastiches an so vielen Stellen, die Freundschaft zwischen Holmes und Watson als eigentlichen Dreh- und Angelpunkt in den Mittelpunkt der Kriminalgeschichten zu rücken. Es gibt Geschichten, in denen aus Holmes‘ Perspektive erzählt wird, in denen er liebevoll über Watsons blumigen Erzählstil herzieht. An anderen Stellen wird die tiefe Vertrautheit zwischen den Männern deutlich, z.B., wenn Watson erkennt, dass Holmes wegen eines anstrengenden Falles kurz vor einem Zusammenbruch steht, obwohl er sich äußerlich nichts anmerken lässt: „Holmes, you are a person, not an automaton, and therefore you require sufficient nourishment to remain alive in order to follow hunches.“ (S. 283), rät ihm Watson einmal, und spielt damit wörtlich auf eine Aussage in den Original-Geschichten an. Dort wirft Watson Holmes einmal scherzhaft vor, er sei ein Automat, weil er die Attraktivität einer Klientin nicht bemerkt hatte. Nebenbei kratz Faye so auch liebevoll-spöttisch am „Superman-Image“ von Holmes bei Arthur Conan Doyle. Dort braucht Holmes eigentlich nie Nahrung oder Schlaf, während er einen komplizierten Fall löst.
Um noch eins draufzusetzen, wird Lyndsay Faye sogar noch kreativer. Sie setzt sich in der Geschichte „An Empty House“ mit Watsons Erzählerrolle in den Sherlock-Holmes-Geschichten auseinander. Holmes als genialen, gefühllosen Übermenschen erleben wir natürlich immer nur aus seiner Perspektive. In der genannten Geschichte versucht Watson nun, den „lost case“ über die Familie Abernetty aufzuschreiben. Dabei sind immer wieder Zeilen durchgestrichen (man kann sie aber noch lesen), in denen es um das Innenleben von Holmes geht. So haben Fayes Pastiches eine ausdrücklich selbstreflektive Funktion. Sie thematisieren ihren eigenen Status als Erzählung, die bewusst Perspektiven ausblendet oder Tricks anwendet, um die Spannung für den Leser zu steigern. Hut ab, Miss Faye!
Anthony Horowitz beschreibt in seinem Nachwort zu The House of Silk, was den besonderen Reiz an den Sherlock-Holmes-Geschichten ausmacht und wie man sie am besten nachahmen sollte: „It seems to me that the appeal of the books has much more to do with character, the friendship of Holmes and Watson, the extraordinary and very rich world they inhabit (…) I realised that this would be the key. (…) I had to find that extraordinary, authentic voice.“ (House of Silk, S. 397)
Genau darin besteht die Aktualisierung des Erzählstils bei Horowitz und Faye. Ihnen gelingt es nicht nur, die Tonalität von Arthur Conan Doyle mit der Sprache des 19. Jahrhunderts nachzuahmen, sie greifen genau die Motive auf, die die Originalgeschichten definieren: die wunderbare Freundschaft zwischen Holmes und Watson, sowie den unfassbaren Charakter von Holmes, und geben ihnen sogar noch neue Facetten. Dabei beweist Lyndsay Faye noch mehr Kreativität als Horowitz. Das liegt z.T. auch an der Form: Da Faye vor allem Kurzgeschichten schreibt, kann sie mehr unterschiedliche Motive oder Stimmungen ausprobieren und für ihre Zwecke ausreizen. Das gelingt innerhalb eines Romans einfach weniger gut.
Funktion Nr. 2 von Sherlock-Holmes-Pastiches – die Hauptfiguren modernisieren
Was passiert, wenn man eine Figur wie Sherlock Holmes in die Jetzt-Zeit versetzt? Das erkundet z.B. Brittany Cavallaro mit ihrer „Charlotte-Holmes“-Reihe (auf deutsch “Holmes & Ich”, bisher 3 Teile erschienen). Die Figur von Holmes ist hier als Mädchen neu interpretiert, weshalb ich auf diese Pastiche an anderer Stelle ausführlicher unter dem Gender-Aspekt eingehen werde. (Ich plane einen #bakerstreetblogs-Artikel zum Thema „Wenn Holmes und Watson das Geschlecht wechseln“.)
Charlotte Holmes wird in Teil 1 der Reihe, A Study in Charlotte, als ebenso verkopft und strikt rational denkende Figur eingeführt, wie Conan Doyle ihren Vorvater erfand. Als Teenager-Mädchen in der Jetzt-Zeit hat sie trotzdem natürlich andere Probleme als der originale Holmes. Es geht mehr um die gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie als Frau gestellt werden, und den Erwartungsdruck ihrer Familie. Dazu an anderer Stelle mehr. ?
Die drei Roman-Pastiches um Charlotte Holmes haben aber nicht nur durch das Setting im 21. Jahrhundert, sondern auch mit ihrem Genre einen ausdrücklich modernen Zug. Denn sie versetzen Holmes und Watson ins YA-Genre. Die Freundschaftsbeziehung zwischen den beiden Teenagern (der 16-jährige Jamie Watson ist der Erzähler) hat dadurch einen anderen Twist als im Original, Jamie steigert sich noch viel mehr in seine Idolisierung von Charlotte hinein. Er verstrickt sich so sehr in eine Mischung aus Heldenverehrung und Verliebtheit (ja, auch das), dass er mehrmals versucht, sich aus dieser – für beide Seiten – zunehmend toxischen Beziehung zu befreien. Das Ganze hat einen bittersüßen Touch, den es so in den originalen Holmes-Geschichten nicht gibt, und wenn, dann nur angedeutet.
Die stilistische Nachahmung ist hier mit dem Motiv der übertriebenen Heldenverehrung durchaus gegeben, wird aber natürlich durch den komplett unterschiedlichen Erzählstil als YA-Roman ziemlich stark verfremdet. Bei einer Pastiche dieser Art kommt es darauf an, die Modernisierung der Figuren gut zu durchdenken, damit sie schlüssig ist. Zudem ist es für mich absolut wichtig, spielerische Referenzen ans Original, z.B, mit der Erwähnung von originalen Fällen, zu platzieren. Sonst sind die Verbindungen zum Holmes-Universum einfach zu lose. Dies gelingt Brittany Cavallero aber ziemlich gut.
Funktion Nr. 3 bei Sherlock-Holmes-Pastiches – Nebenfiguren stehen jetzt im Mittelpunkt
Das ist ein sehr großes Subgenre bei den Sherlock-Holmes-Pastiches: Nachahmungen, in denen plötzlich Moriarty, die Baker Street Irregulars oder Mary Morstan die Hauptrolle spielen und Sherlock Holmes nur als Nebenfigur auftaucht. Besonders empfehlen kann ich hier die Reihe „A Mrs Hudson and Mary Watson Investigation“ von Michelle Birkby, Band 1 heißt The House at Baker Street.
In dieser wunderschön einfühlsam geschriebenen Reihe übernehmen Mrs Hudson und Mary Watson, Dr. Watsons Frau, die Fälle, die Holmes abgelehnt hat. Wie nicht anders zu erwarten, bekommt der Leser hier eine konsequent weibliche Sicht auf das viktorianische Zeitalter und auf den Meisterdetektiv. Besonders toll fand ich, dass die sträflich vernachlässigte Mrs. Hudson, Holmes‘ Haushälterin, endlich eine eigene Stimme bekommt. Es ist nicht die glamouröse Irene Adler, die spricht, sondern eine ganz normale Frau, die einfach von den Männern um sie herum ihr Leben lang unterschätzt wurde. So müssen Holmes und Watson erst lernen, Mrs. Hudson ernst zu nehmen, was mit leisem ironischen Humor erzählt wird.
Besonders schön ist die mütterlich-liebevolle Sicht von Mrs. Hudson (die eigentlich gar nicht so alt ist, ca. Ende 40) auf Sherlock Holmes und Dr. Watson. Sie sieht Holmes‘ Fehler, die Watson nicht sehen kann. Sie sieht Watsons Verblendung, was seinen berühmten Freund betrifft, und sie kann Mary in einem Licht sehen, wie es ihr Mann nie könnte.
In der YA-Reihe My dear Sherlock (im Original: Lock & Mori) greift die Autorin Heather W. Petty ein eigentlich sehr spannendes Motiv auf: Wer war Professor Moriarty? Wie haben sich Holmes und Moriarty kennen gelernt? Bemerkenswert ist nämlich, dass Watson Moriarty in den Originalgeschichten nie zu Gesicht bekommt, er erfährt nur durch Holmes von dessen Erzfeind. Es gibt Sherlockianer, die gerne die Theorie aufstellen, dass Moriarty nie existiert hat. Dieses Mysterium greift Petty in ihrer Reihe auf, die wie die Charlotte-Holmes-Reihe die Figuren im YA-Genre und in der Jetzt-Zeit ansiedelt. „Mori“ ist hier ein junges Mädchen, das auf seinen Mitschüler Sherlock „Lock“ Holmes trifft. John Watson kommt nur ganz am Rande vor, er und Sherlock kennen sich (noch) nicht einmal.
Das Problem, das ich mit dieser Pastiche hatte (der erste Band heißt einfach Lock & Mori) ist, dass sie vom ursprünglichen Stil des Originals fast gar nichts mehr übernimmt. Die Figurenzeichnung hat eigentlich nichts mehr mit den Original-Figuren zu tun. Sherlock ist zwar ein bisschen nerdig, hat aber nur noch wenig Züge von der „rationalen Denkmaschine“ Holmes. Die Liebesgeschichte ist fast sofort der wichtigste Erzählstrang, was bei Charlotte Holmes wenigstens noch als problematisch und dadurch komplexer dargestellt wird. Am Ende von Teil 1 ist noch nicht in Sicht, wie Lock und Mori dereinst zu Erzfeinden werden. Ich bin gespannt und werde die Reihe wohl weiter lesen, aber als YA-Roman, nicht als Holmes-Pastiche.
Fazit – Was ist eine gute Sherlock-Holmes-Pastiche?
Bei jeder Art von Sherlock-Holmes-Pastiche kommt es auf den kreativen aber gleichzeitig respektvollen Umgang mit der Vorlage an, damit sie überzeugt. Verfremdungen sind kein No-Go, sie müssen aber gut begründet bzw. in den originalen Kontext eingebettet werden. Es ist z.B. total legitim, eine Eigenschaft vom originalen Holmes oder Watson zu verstärken, so lange die Verfremdung nicht ins Kitschige oder Melodramatische abgleitet.
Ich persönlich mag die Pastiches am liebsten, die ihm originalen Setting des 19. Jahrhunderts bleiben und versuchen, neue Facetten an den Figuren herauszukitzeln (Funktion Nr. 1). Der Sprachstil sollte möglichst ähnlich sein, den Motiven wie Freundschaft, Heldenverehrung usw. aber eine neue Seite abgewinnen. Dann jubelt mein sherlockianisches Herz. ?
Welche Sherlock-Holmes-Pastiches kennt und mögt ihr? Was ist für euch ein No-Go bei Nachahmungen? Schreibt euren eigenen Artikel zum Thema und postet ihn unter #bakerstreetblogs, wir freuen uns!
Jetzt aber auf zum Artikel von fiktion fetzt, wo Karo z.B. die 10 „goldenen Regeln“ des Pastiches-Schreibens beleuchtet und erklärt, welche Holmes-Pastiches sie gelungen findet. Der Artikel von Sabrinas Blogwelt beschäftigt sich noch mal speziell mit Holmes-Pastiches aus dem YA-Genre.
Achtung, Achtung: Die #bakerstreetblogs gibt’s jetzt auch als Hörbuch vom Maritim-Verlag!
[…] aber auch so genannte „Lost Cases“ (was es damit auf sich hat, könnt ihr in meinem Artikel zu Sherlock-Holmes-Pastiches nachlesen) wie den der „Riesenratte von […]
[…] Als Sherlock-Holmes-Pastiche ist Lock & Mori nicht sehr gut gelungen, wie ich auch in meinem Artikel zu Nachahmungen von Holmes-Geschichten beschreibe. Die typischen YA-Versatzstücke stehen klar im Vordergrund, neben Liebesdrama und […]
Hallo Sabine,
danke für diesen Einblick und die Aufklärung. Ich habe zwar vorher im Prinzip verstanden, was ein Pastiche ist, aber freue mich über die Vertiefung. Das empfohlene Buch von Lindsay Faye gibt es nur auf englisch, oder? Da tue ich mich bei längeren Geschichten schwer mit, auch wenn ich es einigermaßen verstehe, lese ich lieber auf deutsch. Kannst Du da noch was empfehlen, was so in die Richtung geht?
Liebe Grüße, Daniela
Hi Daniela,
danke 😉
Ja, leider, die Faye wurde noch nicht übersetzt – dafür aber der Anthony Horowitz! “The House of Silk” heißt auf deutsch “Das Geheimnis des weißen Bandes”. Ich kann es dir wirklich wärmstens ans Herz legen. Das viktorianische Setting, die Sprache, das hat er alles wirklich sehr authentisch hinbekommen. Horowitz hat außerdem noch 2 oder 3 weitere Holmes-Pastiches geschrieben, die es sicher auch auf deutsch gibt. Eine davon hat den Fokus auf Moriarty, will ich unbedingt noch lesen.
Außerdem gibts die Pastiche von Nicholas Meyer, die Karo auf fiktion fetzt emfpiehlt, (“The Seven Percent Solution”) auch auf deutsch, da heißt sie “Kein Koks für Sherlock Holmes”. Ich hab es noch nicht gelesen, soll aber sehr gut sein.
Ich kann außerdem die Anna-Kronberg-Romane empfehlen, auch wenn Holmes da nicht der Protagonist ist: https://ant1heldin.de/weibliche-detektive-anna-kronberg-teufelsgrinsen
LG, Sabine
[…] Im Oktober 2018 haben Karo (Blog: fiktionfetzt) und Sabine (Blog: ant1heldin) die Blogaktion #bakerstreetblogs ins Leben gerufen. Los ging das Ganze mit einem Plädoyer, warum Holmes auch heute noch lesenswert ist. (Wer die Antwort darauf noch nicht kennt: unbedingt Sabines und Karos Beiträge lesen und überzeugen lassen!). Seitdem versorgen die beiden ihre Leser (fast) jeden Sonntag mit spannenden Beiträgen rund um den Meisterdetektiv aus der Baker Street. Von einzelnen Figuren, über Filmadaptionen bis hin zu den Fans, haben sie schon alles Mögliche rund um das Fandom unter die Lupe genommen. Diese Woche stehen Holmes-Pastiches im Mittelpunkt: Wie funktionieren sie? Und welche sind wirklich lesenswert? Schaut nachher also gleich mal bei den beiden vorbei für noch mehr holmschen Lesestoff: Beitrag von Karo & Beitrag von Sabine. […]
Hallo Sabine,
als ebenfalls Literaturwissenschaftlerin finde ich es ziemlich cool, dass du den Tod des Autors und Genette rein gebracht hast!
Deine Einteilung der Geschichten in die 3 Funktionen fand ich spannend. Ich denke, ich werde mich als nächstes auch eher in Funktion 1 umsehen.
Nochmal vielen Dank, dass ich mich heute bei den #bakerstreetblogs einklinken durfte!
Liebe Grüße
Sabrina
Hi Sabrina,
jaaaa, es musste einfach sein! Ich hab tatsächlich meine allererste Hausarbeit in meiner Unikarriere über eine Sherlock-Holmes-Pastiche geschrieben (jedenfalls hab ich die Theorie aufgestellt, dass es eine ist – es ging um die “Fandorin”-Krimireihe, kennst du die?).
Vielen Dank an dich, dass du mitgemacht hast! Gerne wieder!
LG, Sabine
Hey Sabine,
eine Hausarbeit über Holmes ist ziemlich cool. Wollte ich auch mal machen, aber leider gab die deutsche Literatur zu wenig her. Von der Fandorin-Reihe habe ich noch nie gehört, aber ich kene mich im Krimigenre ohnehin kaum aus.
Liebe Grüße
Sabrina