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„Das wirkliche Leben“: Trash und Terror in der Vorstadtsiedlung

Werbung/Rezensionsexemplar – 2018 gewann Das wirkliche Leben (Originaltitel: La Vraie Vie) von Adeline Dieudonné in Frankreich vierzehn Literaturpreise. Der Erfolg wird vor allem mit der brisanten Handlung begründet, denn es geht um die Geschichte eines halbwüchsigen Mädchens, das versucht, sich dem Einfluss seines gewalttätigen Vaters zu entziehen. Jetzt ist die deutsche Übersetzung auch bei uns angekommen. Hält der Roman, was die vielen begeisterten Lobpreisungen aus Frankreich versprechen?

Das wirkliche Leben Buchcover

Das wirkliche Leben setzt gleich mit einem Horrorszenario ein: Die namenlose Ich-Erzählerin berichtet von einem Zimmer im Vorstadtreihenhaus ihrer Eltern, das für Tierkadaver reserviert ist. Nämlich für die Jagdtrophäen ihres Vaters: „Wildschweine, Hirsche. Antilopenschädel in verschiedenen Größen“ und sogar „auf einem Podest ein ganzer Löwe, die Zähne in den Hals einer kleinen Gazelle geschlagen“ (S. 11). Die Protagonistin lebt in einer beklemmenden Welt der Gewalt. Ihr Vater verprügelt die Mutter regelmäßig. Dieser familiäre Horror spiegelt sich im ganzen Aufbau des Romans wider, sowohl, was das Setting angeht, als auch die einzelnen Plotelemente. Gleich hinterm Haus beginnt z.B. das „Galgenwäldchen“, die Frau des Professors, bei dem die Protagonistin später Privatunterricht nimmt, hat kein Gesicht, nur eine gruselige Maske, und gleich zu Beginn des Romans passiert ein extrem blutiger Unfall, der die Protagonistin und ihren kleinen Bruder für immer traumatisieren wird.

Bei Das wirkliche Leben haben wir es nicht mit einem klassischen Coming-of-Age-Roman zu tun. Diese tendieren zu einer psychologisch genauen Erzählweise, denn sie wollen ja die emotionale Entwicklung ihrer Heldinnen und Helden so gut es geht ausleuchten – nur davon handeln sie. Das wirkliche Leben ist dagegen eine Horrorerzählung, die mit den Mitteln seines Genres versucht, das Aufwachsen und gleichzeitig den Freiheitskampf seiner jungen Heldin darzustellen.

Von psychologischer Finesse ist daher nicht viel zu spüren. Alle Figuren sind Scherenschnitte wie aus einem Grimmschen Gruselmärchen. Der Vater ist das böse Monster, die Mutter eine passive „Amöbe“. Das ist erstmal nichts per se Verwerfliches, aber es trägt dazu bei, dass die Handlung in großen Teilen sehr melodramatisch und flach wird. Figurenentwicklungen werden nicht nachvollzogen und/oder passieren sprunghaft (siehe die dramatische Veränderung des kleinen Bruders).  Schließlich springt auch die Handlung ständig von einem Sommer zum nächsten, fünf Jahre erzählte Zeit fliegen auf 240 groß bedruckten Seiten nur so vorbei. Da bleibt keine Zeit für genaue Entwicklungen, nur für die immer gefährlichere Zuspitzung des Familienkonflikts. Die blutigen Gewaltausbrüche und die Häufung von düsteren Symbolen im Roman wirken zum Teil sogar trashig.

Weibliches „Empowerment“ im Roman

Das wirkliche Leben zeigt eine mutige, erstaunlich resiliente Heldin, die sich trotz der widrigen Umstände ihre Würde bewahrt. Sie wird von ihrem Vater ins Visier genommen, der später auch noch Hilfe von ihrem kleinen Bruder bekommt, aber sie schafft es, ihrer Angst die Stirn zu bieten, sich aus der Opferrolle zu befreien. Das ist sehr mitreißend beschrieben und entwickelt einen starken Spannungssog. Der Triumph der Heldin über Gewalt und Angst betrifft aber nicht nur so gruselige Szenen wie eine nächtliche Hetzjagd, bei der sie von ihrem Vater zum Opfer erkoren wurde. Er betrifft auch die Feindseligkeit, die ihr im Alltag von Vater und Bruder entgegen schlagen, weil sie im Laufe der Handlung beginnt, sich zur Frau zu entwickeln. Die Männer reagieren angeekelt auf ihren fraulichen Körper, sie selbst aber liebt ihn: „Ich mochte meinen Körper einfach, weil er wie ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste.“ (S. 202)

Daher kann Das wirkliche Leben als teilweise gelungener Coming-of-Age-Roman interpretiert werden, der weibliches Empowerment vermittelt. Die Plakativität seiner Darstellungsweise hält ihn aber leider in der Mittelmäßigkeit zurück. Es gibt nur schwarz und weiß, nur grausamste Monster und bemitleidenswerteste Opfer. Der Roman will unglaublich viel, kann zum Erreichen seiner Ziele aber nur mittelmäßige Mittel ergreifen. Das zeigt sich schon an einigen sprachlich sehr holprigen Stellen, wie zum Beispiel diesem schiefen Bild: „ein Schluchzen legte seine Tentakel um meine Kehle“. (S. 164) Das zeigt sich auch an seltsamen Ausflügen ins Sci-Fi-Genre, die hier nicht näher besprochen werden können, um keine Handlungsteile zu verraten. Das wirkliche Leben ist tatsächlich „wie ein Faustschlag“, wie es die französischen Kritiken formulierten: gewaltig, mitreißend, aber auch gewaltig platt.

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben. München: dtv 2020.

Vielen Dank an den dtv für das Rezensionsexemplar und die spannende Lektüre.


Wie war euer Eindruck zum Roman? Wenn ihr euch für weitere Coming-of-Age-Geschichten interessiert, schaut doch bei meiner Rubrik zum Thema Coming-of-Age bei Frauenfiguren vorbei.

Außerdem lohnt sich der Blick auf Jannas Rezension bei kejaswortrausch.de! Janna und ich hatten Das wirkliche Leben zusammen gelesen und uns im Vorfeld zu dieser Rezension viel ausgetauscht. Danke dafür!

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2 Kommentare

  1. Jana 23. Mai 2020

    Hallo Sabine,
    ich hatte bislang gar nichts von diesem Buch gehört, bei französischen Büchern muss ich mich leider ausschließlich auf Verlags- und Blogempfehlungen verlassen, weil mein Französisch so verkümmert ist, dass ich die Bücher nicht im Original entdecken kann. ?
    Das Buch klingt nach deiner Besprechung zwar immer noch lesenswert, aber eher so, als wäre es eine gute Wahl, wenn man mal eine schockierende Geschichte mit Thriller-Elementen lesen will. Es erinnerte mich ein ganz kleines bisschen an „Die Geschichte der Wölfe“ von Emily Fridlund, das zwar schockierende Elemente hatte, aber bei Weitem nicht so derb war, wie „Das wirkliche Leben“ klingt. Danke für die tolle Besprechung!
    Viele Grüße
    Jana
    #litnetzwerk

    Antworten
  2. Huhu meine Feine, du hast es gelungen in Worte gebracht! Vielmehr brauche ich ja dank unseres Austausches gar nciht schreiben, du weißt ja wie es mir gefiel und auf einzelne Punkte sind wir bereits eingegangen. Mir hat das gemeinsame Lesen mit dir wirklich Spaß gemacht und ich würde mich freuen, wenn wir es irgendwann mal wiederholen <3

    Mukkelige Grüße!

    Antworten

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