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Popkultur unter der Lupe

Das Frauenbild in den 20ern – die ersten unabhängigen Frauen?

Ohne Bubikopf, ohne Glitzerkleid und Zigarettenspitze geht’s nicht: Die 20er Jahre und das Frauenbild der Zeit sind untrennbar miteinander verwoben. Sie, die moderne, amüsierfreudige Frau mit kurzer Bobfrisur, ist das Eigentliche, was uns an dieser Epoche fasziniert. Spannend daran ist, inwieweit dieses Frauenbild von den Medien zum kulturellen Stereotyp und Idealbild stilisiert wurde und erst von dort von den Zeitgenossinnen aufgenommen wurde – Realität und Fiktion griffen hier ganz eng ineinander. Der folgende Artikel (Teil 2 des 20er-Jahre-Specials auf Ant1heldin) untersucht dieses Phänomen und den Einfluss von populärer Literatur der Zeit, allen voran F. Scott Fitzgeralds Werken und den Romanen der Neuen Sachlichkeit, auf das Frauenbild der 20er. Außerdem möchte ich die Frage aufwerfen: Was war wirklich dran an diesem Bild der modernen Frau der 20er, die single ist, abends ausgeht und sich ihre Liebhaber selbst sucht? Waren sie die ersten unabhängigen Frauen? Jetzt geht’s los – macht euch bereit, den „flapper“ und die „neue Frau“ kennen zu lernen, es lohnt sich!

Frauenbild 20er Jahre

© iStock, wikimedia commons, Ullstein-Verlag, Scribner

Was war da plötzlich los? Die Veränderung des Frauenbilds nach dem Ersten Weltkrieg

So verheerend der Erste Weltkrieg war, er diente auch der Frauenemanzipation als Katalysator. Die Männer, die von 1914-1918 an der Front kämpften, mussten in der Wirtschaft ersetzt werden – nicht zuletzt, um die Produktion von Waffen, Uniformen usw. am Laufen zu halten. Die Frauen nahmen jetzt diese Stelle ein und sorgten von nun an auch finanziell für ihre Familien. Zuvor hatten schon die Feministinnen der „ersten Welle“ (z.B. die Suffragetten in Großbritannien) jahrzehntelang für das Frauenwahlrecht gekämpft. 1919 trat es in Deutschland in Kraft, 1920 in den USA, in Großbritannien hatten ab 1918 alle Frauen über 30 das Wahlrecht, ab 1928 auch alle Frauen ab 21. Im Klartext heißt das: Frauen hatten jetzt politische Teilhabe und sie hatten gezeigt, dass sie arbeiten und sich selbst versorgen konnten – das führte zu einem ganz neuen Selbstbewusstsein von Frauen. Jetzt wollten sie auch gesellschaftliche Teilhabe. Der neue Typ Frau entstand, der Typ einer berufstätigen Frau (z. B. im neuen Berufszweig der Büroangestellten), die nicht verheiratet ist und sich den Vergnügungen der Zeit hingibt: Tanzpartys, Kino, Reisen, Autofahren zum Beispiel.

Was war so modern am neuen Frauenbild der 20er Jahre?

Dass Frauen sich plötzlich Freiheiten herausnahmen, obwohl gar kein Krieg mehr herrschte, führte ab 1920 von Berlin bis New York zu ernsthaften politischen Debatten. Denn aus der persönlichen Freiheit des Single-Daseins, ermöglicht durch eigenen Verdienst, entstand natürlich auch eine sexuelle Freiheit. Frauen benahmen sich plötzlich „wie Männer“! Sie hatten Sex, mit wem und wann sie es wollten oder flirteten zumindest, und zwar aus eigenem Antrieb, ohne darauf zu warten, dass ein Mann den ersten Schritt machte. An einer festen Bindung waren diese Frauen, zumindest wie es das gängige Ideal beschrieb, nicht interessiert (siehe Marlene Dietrichs Chanson „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“). Das war schlichtweg revolutionär.

Dieses Überschreiten in die Welt der Männer zeigte sich auch im äußeren Erscheinungsbild der modernen Frau der 20er. Der Bubikopf war „in“, auch wenn natürlich nicht alle Frauen ihre Haare abschnitten. Manche steckten die Haare auch so im Nacken hoch, dass sie wie ein „falscher Bob“ aussahen (siehe die wunderbaren Frisuren aus der Serie Downton Abbey). Noch gewagter war übrigens der „Eton crop“, wie ihn z.B. Josephine Baker trug, ein sehr kurzer Herrenhaarschnitt mit Stirnlocke.

Josephine Baker als Vertreterin des neuen Frauenbilds

Josephine Baker im Revue-Kostüm, © wikimedia commons

Noch wichtiger war allerdings das Verstecken von weiblichen Rundungen mit dem neuen Körperideal und der neuen Mode der 20er. Möglichst schlank und gerade sollte die weibliche Silhouette sein. Von der kurvigem Sanduhr-Figur von vor dem Ersten Weltkrieg, begünstigt durch das Korsett, war nichts mehr übrig. Im Gegenteil, Frauen sollten möglichst knabenhaft aussehen. Dazu zogen sie jetzt leichtere Unterwäsche an, die die Körpermitte und den Busen nicht mehr betonte.

Neues Frauenbild 20er Jahre

© wikimedia commons

Die Taille rutschte bei den Kleidern nach unten und zauberte den Oberkörper möglichst flach und gerade. Das fehlende Korsett und vor allem auch die neue Rocklänge – nur noch bis zu den Waden, ein Skandal! – führten zu einer ganz neuen Autonomie von Frauen. Schnelles Tanzen, schnelles Laufen oder Sport lagen jetzt im Bereich des Möglichen. Auch die Schuhabsätze waren flacher als noch zur Kaiserzeit oder der viktorianischen Ära. Kurzum: Frauen waren jetzt nicht mehr vornehmlich schön anzusehen, wenn sie vor die Tür gingen, sondern konnten aktiv am Leben teilnehmen. Der praktische Charakter der Kleidung stand jetzt im Vordergrund. 

Ein Tipp von mir: Auf zeitfaeden.de beschäftigt sich Historikerin Kat ausführlich mit der Mode der 1920er und räumt mit einigen populären Mythen zum Thema flapper-Mode auf. Unbedingt lesenswert!

Frauen in Mode der 20er Jahre

© wikimedia commons

Daneben war aber auch das Spiel mit den Geschlechterrollen ein wichtiger Aspekt des neuen weiblichen Erscheinungsbildes. Das öffentliche Rauchen gehörte dazu (was vor dem Ersten Weltkrieg strikt den Männern vorbehalten war). Die mutigsten Frauen trugen im Alltag sogar Hosen. Die Society Ladies der Zeit wie Ruth Landshoff-Yorck oder Gertrude Stein schockierten, indem sie im „Garçonne“-Look im Smoking auftraten. Das alles sollte den Einbruch der Frauen in ursprünglich männliche Machtbereiche aufzeigen: Berufsleben, Sex, Nachtleben. „Starke“ Frauen standen jetzt „weichen“ Männern gegenüber.

Bis heute verehren wir die typischen Vertreterinnen dieses neuen Frauenbilds wie Marlene Dietrich, Josephine Baker, Mascha Kaleko, Clara Bow (das erste „It-Girl“) oder Zelda Fitzgerald. Sie sind Ikonen ihrer Zeit und stehen für die „neue Frau“ der 20er Jahre (wie sie in Deutschland genannt wurde).

Marlene Dietrich mit Zylinder und Smoking

© wikimedia commons

Jede kann mitmachen! Die Demokratisierung des neuen Frauenbilds in den 20ern

Frauenbild und (Massen-)Kultur der 20er sind besonders eng miteinander verquickt, weil das eine das andere bedingte. Denn die moderne Frau der Zeit, in Amerika „flapper“ genannt, war jetzt nicht einfach nur eine kulturelle Erscheinung unter vielen. Ihr Look und ihr Auftreten waren eine Marke, die von den (damals neuen) Massenmedien wie Kino und Radio unheimlich erfolgreich kolportiert wurde. Es gab schon in den 1890ern revolutionäre Frauentypen, die durch Werbung bekannt wurden, wie z.B. das „Gibson Girl“. Der „flapper“ allerdings ließ sich noch besser vermarkten, weil dieser neue Typ Frau noch rebellischer auftrat und stärker polarisierte. In den USA setzte der Zeichner John Held Jr. dem neuen Typ Frau mit seinen „Margy“-Comics ein ironisches Denkmal. Margy ist spindeldürr, hedonistisch, schick angezogen und wird umschwärmt von älteren dicken Herren. Zusätzlich gab es Filmstars, die die „neue Frau“ auf Plakaten beworben. Filme und Chansons propagierten sie, Autor*innen beschrieben sie.

F. Scott Fitzgeralds Romane und Kurzgeschichten sind selbstverständlich die berühmteste Quelle für das Wesen des „flapper“, allen voran Daisy Buchanan, die weibliche Hauptfigur aus The Great Gatsby. Fitzgerald wird oft die „Erfindung“ dieses Frauenbilds nachgesagt, obwohl das natürlich nicht stimmt. Er bildete einfach eine bestimmte Art dieses Frauentyps ab und war damit sehr erfolgreich. Davon wird später noch die Rede sein.

Es war also vor allem ein Medienphänomen, dieses neue Frauenbild der 20er. Dadurch war es ganz einfach zugänglich für jede Frau. Das Aussehen und die Manieren des „flappers“ oder der „neuen Frau“ konnte man sich abgucken, man konnte sich die Marke zu eigen machen. Schneid‘ dir die Haare ab, schmink dich, und du gehörst dazu! Dafür war nicht allzu viel Geld nötig, auch die kleine Sekretärin konnte da mitmischen.

Für diese „billig erworbene“ Berühmtheit des neuen Frauenbilds wurden seine selbstbewussten jungen Vertreterinnen von älteren Geschlechtsgenossinnen übrigens kritisiert. Es war keine „Eigenleistung“ notwendig und diese Frauen mussten sich auch nicht für eine bestimmte politische Sache engagieren, wie vormals noch die Kämpferinnen fürs Frauenwahlrecht, um dazuzugehören. Diese etwas abschätzige Kritik wird z.B. im Gedicht „The Flapper“ der amerikanischen Journalistin Dorothy Parker gut deutlich, ein Auszug daraus: „All tongues her prowess herald./ For which she well may render thanks/ To God and Scott Fitzgerald./ Her golden rule is plain enough./ Just get them young and treat them rough.“

Die ersten unabhängigen Frauen?

Im Nachhinein sieht das Phänomen der Frauenemanzipation in den 20ern sehr einfach und homogen aus. Alle schnitten sich die Haare ab, alle ließen sich plötzlich nichts mehr von Männern sagen. So simpel war es natürlich nicht. Die Tatsache, dass jede Frau sich ein bisschen Anschein von Emanzipation geben konnte, heißt nicht, dass sie de facto ein unabhängiges Leben führte. Das vermännlichte Erscheinungsbild drückte viel mehr einen Wunsch nach Freiheit aus, die in Wahrheit nicht zu erreichen war. Warum?

Nun, schauen wir uns allein mal die Berufstätigkeit von Frauen in den 20ern an. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Wirtschaft wieder einen Aufschwung (in Deutschland etwas verzögert ab 1924, nach dem Ende der Inflation). Flugzeug- und Automobilfirmen, Textilfabriken, das Bankwesen und viele weitere Branchen boomten und brauchten Angestellte, die den Betrieb als Buchhalter*innen, Sekretär*innen usw. am Laufen hielten. Es entstand überhaupt erst der Beruf des oder der Büroangestellten, wie wir ihn heute kennen.

Stenotypistin 20er-30er Jahre

© wikimedia commons

Da viele Männer im Krieg gefallen waren, rückten die Frauen nach. Freilich vor allem in den nieder bezahlten Positionen wie die der Stenotypistin oder der Telefonistin. Denn die besser bezahlten Positionen sollten weiterhin für Männer frei bleiben. So viel weiter im Denken war die Gesellschaft dann leider doch nicht. Männer sollten diejenigen bleiben, die „das Geld nach Hause brachten“, Frauen sollten heiraten und zu Hause bleiben. Im Umkehrschluss bedeutete das oft: Sobald eine Frau sich verehelichte, verlor sie ihre Stelle, denn sie hatte ja dann einen Mann, der sie ernährte. Sie sollte die Stelle freimachen für einen Mann, „der sie wirklich brauchte“.

Aber zurück zu den ledigen Frauen der zwanziger Jahre: Sicher gab es einen wachsenden Anteil unter ihnen, der aus emanzipatorischen Gründen berufstätig sein wollte. Für die meisten war es aber eine Notwendigkeit, um zu überleben. Durch den Krieg fehlten ganz einfach die Männer als Ehegatten und Familienversorger, und so mussten viele Frauen notgedrungen single bleiben und selbst Geld verdienen. (Wir dürfen uns die Frauen von damals also nicht alle als glühende Feministinnen vorstellen.) Zum zweiten blieb auch die Lage von berufstätigen Frauen prekär, weil sie eben noch einmal weniger verdienten als Männer in vergleichbaren Positionen. 70 % der angestellten Frauen sollen in der Weimarer Republik in den beiden niedrigsten Gehaltsklassen gearbeitet haben. Aufstiegschancen gab es so gut wie gar keine. Da tut sich eine große Schere auf zwischen dem großen Drang nach Aufschwung, Selbständigkeit und dem bisschen Vergnügen, das die neuen Massenmedien boten – und der harten Realität, die doch weiterhin aus Armut und Existenzängsten bestand. Selbst die schlecht bezahlten Jobs waren für Frauen Ende der 20er Jahre rar gesät, weil der Wirtschaftsaufschwung nur von kurzer Dauer war – und unter der großen Masse an Arbeitslosen natürlich die Männer bevorzugt wurden. Dann blieb oft nur noch der Weg in die Prostitution, um über die Runden zu kommen. Diesen harten Kampf ums Überleben als Frau beschreibt Irmgard Keun sehr anschaulich in ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen von 1932:

„Im Büro war mir dann so übel und der Alte hat’s auch nicht mehr dick und kann einen jeden Tag entlassen.“ (S. 7). Und: „Ich liebe Berlin mit einer Angst in den Knien und weiß nicht, was morgen essen, aber es ist mir egal …“ (S. 95)

Die allermeisten Zeitgenossinnen konnten sich das Leben als moderne, unabhängige Frau schlichtweg nicht leisten. Am legendären Nachtleben teilnehmen, Nächte durchfeiern, sich nur noch mit Federboa, Paillettenkleid und Zigarettenspitze zeigen, das alles blieb den reichsten Frauen vorbehalten. Haare abschneiden, knielange Röcke tragen, alles gut und schön – aber alles, was darüber hinausging, kostete schiere Kraft. Das Frauenbild der 20er zu erfüllen, war anstrengend, wenn man arm war.

Außerdem dürfen wir nicht unterschätzen, wie stark der konservative „Backlash“ damals war. Viele Frauen hatten während des Ersten Weltkriegs vielleicht noch gehofft, dass sie nach Kriegsende für ihren Einsatz belohnt, ihre Leistungen von der Männerwelt endlich anerkannt würden. Das war natürlich nicht der Fall, Frauen sollten wieder in alte Rollenbilder zurückkehren. Die Frauen, die heirateten, oder unter der Fuchtel von ihren Vätern standen und ihnen ihren Verdienst aushändigen mussten, lebten unter fast genau denselben Bedingungen wie vor dem Ersten Weltkrieg. Für das Lebensgefühl der 20er, und vor allem auch für die Frauen der Zeit, bedeutete das eine große Desillusionierung, die vielleicht umso mehr mit Alkohol und seichter Unterhaltung im Nachtlokal verdrängt werden musste.

Gemälde Lesser Ury "Galerie im Café Vaterland"

Gemälde von Lesser Ury: „Galerie im Café Vaterland am Potsdamer Platz“, 1920, © wikimedia commons

Machtspielchen der Geschlechter in den 20ern – was wollte die „neue Frau“ wirklich?

Genau diese Ambivalenz ist so spannend – die Entlarvung des neuen Frauenbilds der 20er als schöne Idealvorstellung, die für die normale Bevölkerung kaum zu erreichen war. In den Unterhaltungsmedien der Zeit wurde die „Vermännlichung“ des Frauenbilds außerdem meist nur als kurzfristiges Experiment dargestellt. Doch diese Geschichten hatten Erfolg beim weiblichen Publikum.

Die Hollywoodkomödie The Perfect Flapper (1924) mit Colleen Moore zum Beispiel zeigt ein modernes Mädchen, das sich am Ende der Handlung doch wieder zum konservativen Frauenbild „besinnt“ und heiratet. Einen unheimlichen Erfolg in Amerika verzeichneten außerdem zwei Romane: Garçonne (1922, von Victor Margueritte) und The Sheik (1919, von Edith Maude Hull). Bei der Garçonne (eine verweiblichte Form des französischen Worts für „Junge“, „garçon“) geht es um eine Frau, die vor einer Zwangsehe flieht und lieber unabhängig lebt, wie ein Mann: viele sexuelle Abenteuer (mit beiden Geschlechtern) inbegriffen. Zur Strafe wird ihr ein unerfüllter Kinderwunsch verpasst und am Ende kann sie auch nur von der Liebe eines Mannes gerettet werden. The Sheik handelt von einer selbstbewussten britischen Frau, die auf einer Forschungsreise von einem unheimlich attraktiven Scheich entführt und wieder zum devoten Frauenbild „konvertiert“ wird, indem sie mit sexueller Gewalt gefügig gemacht wird. Das Ganze wird natürlich als absolute Hingabe ihrerseits getarnt. The Sheik „entlarvt“ scheinbar den Freiheitswillen der modernen Frau als Farce. In Wirklichkeit, so deutet der Roman an, sehne sie sich ja doch nur nach der Führung durch einen starken Mann. The Sheik wurde übrigens auch sehr erfolgreich verfilmt und machte den Hauptdarsteller Rudolph Valentino zum Sexsymbol der 20er. Das männliche Gegenstück zum „flapper“ hieß fortan „sheik“.

Film-Stillbild Rudolph Valentino und Agnes Ayres in The Sheik

Rudolph Valentino und Agnes Ayres in „The Sheik“, © wikimedia commons

Diese Stoffe waren vor allem beim weiblichen Publikum sehr beliebt und scheinen unserer heutigen Vorstellung von der emanzipierten Frau der 20er einen Dämpfer zu verpassen. Mit dem Konzept der „kognitiven Dissonanz“ fällt es vielleicht leichter, diesen Widerspruch zu verstehen. Der sperrige Begriff aus der Sozialpsychologie bezeichnet (einfach gesagt) die Zwickmühle, in der man sich emotional befindet, wenn man etwas tut, was eigentlich gegen die eigenen Überzeugungen geht. Bei feministischen Themen kann man das gut auf gelernte Muster anwenden, die man als Frau rational gesehen eigentlich überholt findet, sie aber trotzdem irgendwie mag, weil man eben an sie gewöhnt ist. Zum Beispiel, dass ein Mann einer Frau „immer die Tür aufhalten soll“. Oder die traditionellen Geschlechterrollen in Liebesfilmen. So lässt sich auch das neue Frauenbild der 20er nicht aus seiner Ambivalenz lösen. Zum einen, weil das alte Ideal der Hausfrau und Mutter, die sich von einem Mann ernähren lässt, noch viel zu präsent war. Zum anderen, weil das Leben als ledige, moderne Frau verdammt schwierig sein konnte, vor allem finanziell. So blieb es oft nur beim reizvollen Machtspielchen mit vertauschten Geschlechterrollen. Frauen probierten sich aus, ohne sich notwendigerweise immer komplett von alten, romantisierten Frauenbildern wie der „damsel in distress“ abzuwenden.

Frauenbilder der 20er Jahre in der Literatur

F. Scott Fitzgerald und der „flapper“ in den USA

Wie bereits in meinem Auftakt-Artikel zur Faszination der 20er Jahre heute geschrieben habe, war der Zeitgeist dieses Jahrzehnt in den USA und in Deutschland recht unterschiedlich ausgeprägt. Das wirkt sich natürlich auch auf die Konzeption von Geschlechterbildern aus.

Der Begriff „flapper“ bezeichnete vor allem das sehr junge Party-Girl in den USA der 20er Jahre. Trotz Prohibition (ab 1920) blühte der illegale Handel mit Alkohol. Wer etwas auf sich hielt, betrank sich, gerade weil der Ausschank von Alkohol eigentlich verboten war. Der reine Konsum nicht, weshalb auch immer mehr Leute illegal selbst Schnaps brannten. Die High Society gab sich natürlich nicht mit billigem Fusel zufrieden, sondern ließ sich von Alkoholschmugglern guten Stoff in ihre Privathäuser bringen (wie es Jay Gatsby in The Great Gatsby tut) oder man besuchte eine der vielen illegalen Bars in New York, „Speakeasys“ genannt. Genau in diese Kultur des Alkohol- und Geldrausches kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch sind die „flapper“ einzuordnen. Sie schockierten mit freizügigen Fransenkleidern und provokanten Manieren (siehe Dorothy Parkers Gedicht The Flapper). Sie gingen abends trinken und tanzen. Der „flapper“ konnte zwar tagsüber auch eine stinknormale Sekretärin sein, das populäre Bild von ihr war aber eher das eines Society Girls, das nicht arbeitete und sich von reichen, naiven Männern aushalten ließ: „Get them young and treat them rough!“ Das (männliche) Establishment fühlte sich gleichermaßen fasziniert und bedroht von diesen hedonistischen jungen Frauen, die alle Anstandsregeln über Bord warfen und sich scheinbar sexuelle Freiheiten nahmen. 

Moderne Frau 20er Jahre

© wikimedia commons

Vor allem F. Scott Fitzgeralds Werke trugen zur Popularität und Bekanntheit dieses Frauenbilds des schönen, egoistischen Party-Girls bei. Sein Debütroman This Side of Paradise (1920) wurde als Schlüsselroman für das Lebensgefühl seiner eigenen Generation gesehen (er war erst 23). In diesem Roman kommen Mädchen vor, die zwar noch nicht „flapper“ heißen, aber genau den Typ des flirtenden Party-Girls darstellten, wie es kurz darauf zum Idealbild des amerikanischen „flapper“ erhoben wurde. Sie bleiben bis spät nachts auf Partys, küssen Männer einfach so zum Spaß und gehen sogar auf „petting parties“ (ja, die gab es damals wirklich). Selbstverständlich muss dieses Bild als sexy Wunschvorstellung eines männlichen Autors gesehen werden – aber immerhin, diese Frauenfiguren nahmen sich das, was sie wollten, wurden selbst aktiv.

In allen seinen frühen Romanen zeichnet Fitzgerald außerdem das Bild der reichen, gedankenlosen, wenn auch zutiefst melancholischen Erbin, in die sich seine Helden aus bescheidenen Verhältnissen verlieben. Oft ist es dann aber die fehlende Charakterstärke der reichen Frau, die zum Bruch des Paares führt. Ein gutes Beispiel ist die – aus der Sicht des männlichen Erzählers – egoistische Daisy Buchanan aus The Great Gatsby (1925), die sich gegen die große Liebe und für Reichtum und gesellschaftliches Ansehen entscheidet:

„They were careless people, Tom and Daisy – they smashed up things and creatures and then retreated back into their money or their vast carelessness, or whatever it was that kept them together …” (The Great Gatsby, S. 179)

Fitzgerald stammte aus einer verarmten Familie des Bürgertums und interessierte sich in seiner Literatur daher immer besonders für die Klassenunterschiede, die durch Geldbesitz oder -verlust zustande kommen. Seine Texte können auch autobiographisch und zum Teil sogar als Abrechnung mit seiner Frau Zelda gesehen werden, die selbst aus reichen Verhältnissen stammte und der er vorwarf, ihn auszunutzen.

Die „neue Frau” in der Literatur der „Neuen Sachlichkeit“

Im Gegensatz zum „flapper“ kann die „neue Frau“ im Deutschland der Weimarer Republik als offener gesehen werden. Sie ist mehr als eine Erscheinung des verruchten Nachtlebens und ist nicht nur auf ihre sexuellen Reize beschränkt. Das liegt ganz offensichtlich auch daran, dass weibliche Autorinnen an ihrem medialen Bild mitgefeilt haben. Um nur einige zu nennen: Mascha Kaleko, Vicki Baum und Irmgard Keun, alles Vertreterinnen der Neuen Sachlichkeit.

Kurzer Exkurs: Bei dieser literarischen Stilrichtung ging es um die nüchterne, möglichst „objektive“ Darstellung der Realität in der Weimarer Republik, meist einer Realität in der Großstadt. Thematisiert wurden gesellschaftliche Probleme der Zeit, Erotik, technische Errungenschaften wie das Flugzeug usw.

Die „neue Frau“ war in der Weimarer Republik der Begriff für die moderne junge Frau aus der Großstadt, ledig und berufstätig. Sie nahm am Nachtleben teil, auch wenn sie oft nicht reich war und sich auch mal durchschnorren musste, wie es Doris tut, die Heldin aus aus Das kunstseidene Mädchen. Ganz oft thematisieren Texte mit der „neuen Frau“ als Heldin die sexuelle Doppelmoral der Zeit und treten für die sexuelle Gleichberechtigung der Frau ein. Ein Beispiel aus Das kunstseidene Mädchen:

„Tilli sagt: Männer sind nichts als sinnlich und wollen nur das. Aber ich sage: Tilli, Frauen sind auch manchmal sinnlich und wollen auch manchmal nur das. Und das kommt dann auf eins raus.“ (S. 99).

Wichtig: Trotz vieler neuer Freiheiten ist die „neue Frau“ in der Literatur der Zeit immer von vielen äußeren Machtstrukturen abhängig, auf die sie keinen Einfluss hat. Zum Beispiel vom Arbeitgeber oder vom Liebhaber. Deshalb sind ihre Konflikte auch für heutige Leser*innen nachvollziehbar und erscheinen uns auch heute noch so modern.

Cover "Das kunstseidene Mädchen"

© Ullstein-Verlag

Neugierig? In der übernächsten Folge meines 20er-Jahre-Specials werde ich speziell auf die Autorinnen der Neuen Sachlichkeit eingehen und dort natürlich noch einmal ausführlicher auf ihre Heldinnen. Die nächste Ausgabe wird die Serie Babylon Berlin und ihre eben erschienene dritte Staffel behandeln. Bleibt dran!

Jetzt brauche ich eure Meinung: Was interessiert euch so sehr am Frauenbild der 20er Jahre?

Quellen:

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, Ullstein: Berlin 2001.
F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby, Scribner: New York 2018.
Linda Simon: Lost Girls – The Invention of the Flapper, Reaktion Books 2019.
The 1920s: Young women took the struggle for freedom into their private lives„, bei: theguardian.com
Die neue Frau der 20er“ bei swr.de

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6 Kommentare

  1. Julian 9. Februar 2022

    Dieser Beitrag hat mir echt bei meinem Referat geholfen danke (:

    Antworten
    1. Sabine 10. Februar 2022

      Freut mich!

      Antworten
  2. Johanna 5. März 2020

    Super spannendes Thema, das Du toll aufbereitet hast. Ich finde echt krass, wie sehr die 20er Jahre teilweise heute verklärt werden, auch wenn unbestreitbar natürlich viel damals passiert ist. Überhaupt finde ich deine Themenwahl für deinen Blog klasse, großes Kompliment. 🙂

    Antworten
    1. Sabine 25. März 2020

      Vielen Dank für das Lob, das freut mich sehr! 😉

      Antworten
  3. Nadine 4. März 2020

    Ein interessanter Beitrag! Spannend zu sehen, wie die harte Realität mit der Illusion bricht. Bin auch schon gespannt auf die weiteren Beiträge, vielleicht gebe ich Irmgard Keun auch noch mal eine Chance, ich fand ihr Werk zwar interessant, doch konnte ich mich mit ihrem Schreibstil nicht so ganz anfreunden.

    Liebe Grüße

    Nadine

    Antworten
    1. Sabine 25. März 2020

      Gib der Keun auf jeden Fall noch eine Chance, es lohnt sich! 😉

      Antworten

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