Was fasziniert uns an den 20er Jahren?

Den Start der dritten Serienstaffel von Babylon Berlin nehme ich zum Anlass, einen Blick auf die „goldenen Zwanziger“ zu werfen. Warum feiern wir heute wieder „Bohème Sauvage“-Partys, lesen massenhaft Romane oder schauen Serien, die in dieser Zeit spielen? Diesen Sehnsuchtsort erkunde ich mit einem Themenspecial für die nächsten fünf bis sechs Wochen. Für den Beginn stelle ich die  Frage: Was fasziniert uns an den 20ern? Was gibt uns dieses Jahrzehnt heute?

Babylon Berlin und Downton Abbey sind nur zwei Beispiele. Die 20er sind „in“, weil sie Glamour und Elend, Partystimmung und Desillusionierung miteinander verbinden. Eine Mischung, die wir spannend finden, auch wenn natürlich viel Romantisierung mit dabei ist – erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die 20er schließlich „golden“ getauft. Ganz egal, lasst uns einen Blick auf die fünf wichtigsten Faszinationspunkte der Epoche werfen!

Faszination 20er Jahre Der nasse Fisch Vogue
© iStock, KiWi, wikimedia commons

Faszination 20er Jahre Nr. 1: Rausch und Glamour

Die bombastische Roman-Verfilmung von The Great Gatsby von Baz Luhrman aus dem Jahr 2013 demonstriert es ganz deutlich: Die 20er Jahre verbinden wir untrennbar mit Rausch, Party und Glamour. Wie viele Zeitgenossen sich diesen Rausch wirklich leisten konnten, sei dahingestellt. Wir können nicht anders: Wir bewundern die Eleganz der damaligen Mode, z. B. Smoking für die Herren und paillettenbesetzte Fransenkleider für die Damen. Wir sehnen uns danach, das legendäre Nachtleben der 20er einmal selbst miterleben zu können (sicher ein Erfolgsgrund für die „Bohème Sauvage“-Partys, das sind 20er-Jahre-Mottopartys, die regelmäßig in deutschen Großstädten stattfinden, selbstverständlich stilecht mit Dresscode und Big Band).

Nach den traumatischen Erlebnissen des Ersten Weltkriegs herrschte ein riesiger Nachholbedarf nach ein bisschen Spaß und Ausgelassenheit, und ab 1924 rückte das in Deutschland auch wirtschaftlich wieder in den Bereich des Möglichen. Natürlich gab es das „typische“ glamouröse Nachtleben der 20er Jahre nur in den Großstädten wie Paris, New York und Berlin. Aber gerade in Berlin blühte es besonders auf. Unzählige Themenrestaurants, Vergnügungspaläste, Ballsäle, Bars und Cafés zogen die Nachtschwärmer der Zeit an. Eine solche Fülle an Vergnügungsangeboten hatte es einfach noch nie gegeben. Nicht zu vergessen das Kino, das jetzt zum Massenmedium avancierte. Alles war jetzt auf Tempo ausgelegt, die Modetänze „Charleston“ und „Shimmy“ genauso wie die schnellen Autos, mit denen man von A nach B kam, wenn man es sich leisten konnte.

Schnelligkeitsrausch, Alkoholrausch und Konsumrausch verbinden sich in unserer Vorstellung zu einer einzigen großen Partystimmung, wenn wir an die 20er Jahre denken. Sie stehen für eine unglaubliche Lebenslust, das spiegeln z.B. auch die Partyszenen in der Serie Babylon Berlin deutlich wider. Für die meisten Zeitgenossen kam diese neue Lebenslust aber nicht mit Lackschuhen, Champagner und Federboa daher, sondern mit bescheideneren Annehmlichkeiten, wenn überhaupt: Kino und Radiomusik nach Feierabend zum Beispiel. Für die vielen Arbeitslosen der Zeit gab es nicht einmal das.

Faszination 20er Jahre Nr. 2: Freiheit!

In den 20er Jahren war es für kurze Zeit möglich, mit der eigenen Identität, der Sexualität und dem Aussehen zu experimentieren, wie man gerne wollte. Gerade für Deutschland bedeutet das eine viel zu kurze Spanne intellektueller Freiheit, die 1933 mit der Machtergreifung der Nazis wieder rückgängig gemacht wurde. Aber gerade dieses kurze Aufblitzen von Möglichkeiten so kurz nach dem verheerenden Weltkrieg und den Zwängen des Kaiserreichs flößt uns heute wahrscheinlich so große Bewunderung ein. Künstlercafés und experimentelle Kunstrichtungen wie Dadaismus und Surrealismus florierten. Jazzmusik und Chansons waren der Soundtrack der Zeit. In Berlin gab es zum ersten Mal reine Lesbencafés, und eine der Skandalveranstaltungen der Zeit waren die berühmten Berliner Transvestitenbälle.

Die Emanzipation der Frau erlebte einen großen Aufschwung. Frauen hatten seit 1919 das Wahlrecht und waren insgesamt weniger auf ihre traditionelle Rolle als Familienversorgerin beschränkt. Die „neue Frau“ war berufstätig (z.B. als Sekretärin), rauchte in der Öffentlichkeit und suchte sich ihre Liebschaften selbst aus. Vielleicht wurde auf der Seite der Männer das Klischeebild des strammen Helden, der sich im Krieg für sein Vaterland opfert, von den antipatriotischen Romanen der Zeit ebenfalls etwas ins Wanken gebracht – siehe Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928). Fest steht: Wir sehen die damaligen Größen aus Kunst und Kultur als mutige Persönlichkeiten an, die Konventionen brachen und in scheinbar größerer Freiheit leben, als wir es heute von uns annehmen würden – Marlene Dietrich, Ernest Hemingway & Co. als moderne Heldinnen und Helden. Vergessen dürfen wir dabei nicht, dass sie freilich eine größere Fallhöhe hatten als wir heutzutage, da eine Frau im Anzug nichts Ungewöhnliches mehr ist. Den starken Frauenfiguren der 20er setzen wir heute in vielen aktuellen Veröffentlichungen ein Denkmal, z.B. in den Serien Downton Abbey, Miss Fishers Murder Mysteries und Babylon Berlin oder im Audible-Hörspiel Die juten Sitten.

Freizeit 20er Jahre
© wikimedia commons

Faszination 20er Jahre Nr. 3: der „Tanz am Abgrund“

Das ist wahrscheinlich einer der größten Faszinationspunkte der 20er: der „Tanz auf dem Vulkan“ oder der „Tanz am Abgrund“, wie der Zeitgeist der Epoche genannt wird. Denn die 20er waren nicht nur eine Zeit des Aufschwungs und der Lebenslust, sondern auch geprägt von einer großen Desillusionierung. Diese Ambivalenz sorgt für eine unvergleichliche Spannung und eignet sich deshalb auch so gut zur Verarbeitung in historischen Romanen, allen voran historischen Krimis wie Volker Kutschers Reihe um Kommissar Gereon Rath, auf der Babylon Berlin basiert. Beides, Buchvorlage und Serie, stellen den Hedonismus im Angesicht der nahenden Katastrophe ziemlich gut heraus.

Bei den Gründen für die oben erwähnte Desillusionierung muss man allerdings ein wenig zwischen Deutschland und dem Rest der westlichen Welt unterscheiden. In der Weimarer Republik war der „Tanz auf dem Vulkan“ besonders spürbar, weil die junge Demokratie so unstabil war und politische Unruhen an der Tagesordnung waren. Diese Unsicherheit führte wahrscheinlich dazu, dass umso heftiger gefeiert wurde, sozusagen „mit Scheuklappen“ vor dem nahenden politischen Desaster. Diese Tragik lässt sich äußerst effektvoll in fiktionalen Werken einsetzen.

Die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs waren natürlich ein weiterer wichtiger Grund für diese nihilistische Stimmung. Beinahe eine ganze Generation Männer war umsonst geopfert worden. Jetzt war man gerade so davongekommen, aber morgen konnte es schon wieder vorbei sein. Dieses Lebensgefühl traf auch auf die amerikanischen Schriftsteller der Zeit zu, allen voran Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald. Aber in Amerika war es auch der Zweifel am „American Dream“, wie ihn Fitzgerald z.B. in The Great Gatsby formuliert, der für den Dämpfer in der Aufbruchsstimmung der Zeit verantwortlich war.

Faszination 20er Jahre Nr. 4: Nostalgie

Nostalgie für vergangene Epochen kennen wir in vielfältigster Ausprägung, das zeigt allein die Mainstream-Mode, die immer mal wieder die 60er oder die 80er neu aufleben lässt. Aber die Nostalgie nach den 20ern hat vielleicht noch einen besonderen Beigeschmack. Gerade mit dem Hinblick auf das Dritte Reich erscheinen die 20er für Deutsche vielleicht umso kostbarer, wie ein „verlorenes Paradies“, das wir durch die eigene Blindheit eingebüßt haben. Deshalb bezeichnete man die 20er nach dem Zweiten Weltkrieg wehmütig als die „goldenen Zwanziger“. Und deswegen gibt es heute so viele fiktionale Stoffe, die die Machtergreifung der Nazis, die Zeit davor und danach schildern, wie z.B. der historische Roman Torstraße 1 von Sybil Volks.

Die juten Sitten Cover

Faszination 20er Jahre Nr. 5: der Spiegel zur Gegenwart

Neue Sachlichkeit, schnelle Autos, befreite Geschlechterbilder, all das macht die 20er zu einem modernen Jahrzehnt, das unserer Gegenwart gar nicht so fremd ist. Manche Sehnsuchtsorte sind ja eher wie geliebte Märchen aus der Kindheit – zu weit weg und zu fremd, um einen realen Bezug zum eigenen Leben zu haben. Jane Austens heimelige Regency-Ära ist das zum Beispiel. Die 1920er dagegen erscheinen viel realer, viel näher.

Wir fühlen eine gewisse Verbindung und Verbrüderung zu dieser Zeit und versuchen, Parallelen zu ziehen, gerade weil wir selbst in die 20er Jahre unserer Jahrhunderts eingetreten sind. Trotzdem ergibt es wenig Sinn, unsere 20er mit den 1920ern zu vergleichen. Ja, die rechtsradikalen Kräfte erstarken gerade in Deutschland. Und ja, die Demokratie ist nichts Selbstverständliches, wir müssen uns auch heute dafür einsetzen, damit sie besteht. Aber mit der politischen Instabilität und dem sozialen Elend von damals kann man unsere Gegenwart kaum vergleichen.

Vielleicht sehnen wir uns einfach danach, einmal so cool zu sein wie die Ikonen der Zeit. Einmal am Abgrund tanzen wie Josephine Baker, einmal die Massen aufrütteln wie Ernest Hemingway. Das funktioniert heute vielleicht nicht mehr so gut, weil es uns wirtschaftlich und politisch so viel besser geht als den Zeitgenossen der 20er Jahre.

Was ist mit euch? Was fasziniert euch so an den 20er Jahren?

In der nächsten Ausgabe dieses Specials wird es um die Frauenbilder der 20er gehen, vom amerikanischen „flapper“ bis zur „neuen Frau“ in Deutschland. Bleibt dran!

4 Kommentare

  1. Ein toller Einstieg! Die goldenen Zwanziger und die neue Sachlichkeit war ohne Zweifel eins meiner liebsten Deutschthemen, die ich in der Schule hatte. Ich finde die Zeit einfach faszinierend, gerade mit ihrem Tanz auf dem Vulkan, mit ihren glamourösen Partys und dem Elend auf der anderen Seite. Gerade diese Gegensätze macht es spannend. Die Illusion, das alles möglich ist und das Brechen der Illusion finde ich bei Irmgard Keun auch spannend. Allgemein wie sich das neue Bild der neuen Frau herausbildet, muss auch endlich mal mehr von Schriftstellerinnen aus der Zeit lesen. Ich finde Babylon Berlin zeigt diese Gegensätze mit Partys und dem aufkeimenden NS-Regime sehr gut. Es ist eine sehr spannende Zeit und ich freue mich auf deine Beiträge zu dem Thema. Passenderweise habe ich dieses Jahr einen Damenanzug aus den 20er Jahre gekleidet, den Charleston wollte aber keiner meiner Freunde mit mir üben 😀

    Liebe Grüße

    Nadine

  2. Eine tolle Reihe und ich bin schon sehr gespannt auf die kommenden Ausgaben. Der Einstieg hat mir gut gefallen und ich wüde die Gründe alle unterschreiben. Die rauschenden Partys, die Freiheiten, aber auch die Gegensätze die den Alltag auszeichneten, sind natürlich spannender Stoff für Filme, Serien oder Bücher. Auch wenn ich mit Babylon Berlin nun nicht warm geworden bin, möchte ich doch mehr Serien, Filme und Bücher schauen bzw. lesen, die sich mit der Zeit beschäftigen. Donwton Abbey möchte ich dieses Jahr mal angehen, mal gucken, ob die mir gefällt. The Great Gatsby da habe ich den Film gesehen und natürlich auch die wunderschönen Kostüme und rauschenden Partys gefeiert. Danach hatten wir dann auch eine Klassenparty mit dem Motto der 20er, da diente der Film dann etwas als Vorlage.

  3. Auf deine Serie bin ich sehr gespannt.

    Die Mischung aus individueller Freiheit, Ungewissheit, Leid, der Schnelligkeit technologischer und medialer Entwicklung sowie teils daraus folgender politischer Radikalisierung ähnelt unserer Zeit in gewisser Weise. Aus der Sicht kann ich den Vergleich verstehen. Die “neuen” 20er werden v.a. hinsichtlich Digitalisierung, Klima und noch mehr Neoliberalismus an Fahrt aufnehmen und zu noch mehr Verwerfungen führen; ein Teil der Menschen wird damit klarkommen oder profitieren,, aber viele Leute weltweit werden darunter leiden.

    Aber vielleicht sollten die Menschen aufpassen, nicht zu viele Parallelen finden zu wollen. Ein nervös-ängstliches “Das ist heute alles wie damals” denkt sich schnell. Als Warnung, aufzupassen, dass nicht die heutigen Rechten weiter an Macht gewinnen, passt das sogar.

    Aber auch die Wähler*innen der Rechten haben vielleicht diesen Gedanken, weil sie mit so viel schneller Veränderung und Zukunftsängsten nicht klarkommen und sich nach einer “heilen Welt” sehnen, in der alles klar geregelt ist. In den 1920ern vielleicht die Kaiserzeit, in den 2020ern vielleicht die 1950er-1980er der alten BRD. Auch in Zeitschriftenläden leider sehr prominent ausgestellte rechtsextreme Magazine ziehen auf dem Titel einen Vergleich zu den 20ern, da schwingt auch deren und ihrer Leserschaft Hoffnung mit, dass die erneut an die Macht kommen und das Rad zurück drehen. In dem Kontext finde ich den Vergleich gar nicht mehr faszinierend, sondern sehe nur die rechte Gefahr.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Ich stimme der Datenschutzerklärung zu.