Holmes gegen Scotland Yard – hätte Sherlock Holmes den Ripper-Fall lösen können?

Ein Blick durch die Lupe, schon ist der Fall geklärt – so kennen und lieben wir Sherlockianer unseren Meisterdetektiv. Für Sherlock Holmes ist alles ein Kinderspiel, wofür die offiziellen Gesetzeshüter Hilfestellung brauchen. Aber ist das nur Übertreibung um des Effektes willen? Diese Woche beleuchte ich in meinem #bakerstreetblogs-Artikel die Ermittlungsmethoden des genialen Detektivs und vergleiche sie mit denen von Scotland Yard im späten 19. Jahrhundert. Ich verwende ein berühmtes zeitgenössisches Beispiel für (angebliches) Polizeiversagen, die Jack-the-Ripper-Morde, um den Stand der damaligen Kriminalistik zu ergründen. War die Polizei wirklich so unfähig, wie Arthur Conan Doyle es in seinen Sherlock-Holmes-Geschichten immer beschreibt? Konnte sie deshalb den Ripper-Fall nicht lösen? Was machte Holmes so erfolgreich, und wären seine Methoden heute noch zeitgemäß?

Schaut nach dem Lesen auch bei Karos Artikel zu Conan Doyles Spiritualismus vorbei – es bleibt gruselig!

Sherlock Holmes Ripper Fall
© wikimedia commons

Nur ein Jahr, nachdem Arthur Conan Doyle den genialsten Bekämpfer des Verbrechens ins Leben gerufen hatte, Sherlock Holmes, trieb der bis dato grausamste und gerissenste Mörder im realen Londoner East End sein Unwesen: ein Verbrecher, den die Medien bald „Jack the Ripper“ („Jack der Aufschlitzer“) nannten. Während die Mordserie an Prostituierten im Herbst 1888 ihren Lauf nahm, wurde die Kritik an Scotland Yard immer lauter. Denn einen eindeutigen Täter konnte die Polizei nicht dingfest machen. So illustriert gerade dieser Fall die Herausforderungen, vor die sich Scotland Yard bei der Verbrechensbekämpfung gestellt sah.

Das „Ripper-Phänomen“

Vorweg ein paar Worte zu dem berüchtigten Kriminalfall rund um Jack the Ripper. Der ominöse Täter wurde im Nachgang seiner Verbrechen nämlich ein fast genauso großes popkulturelles Phänomen wie Sherlock Holmes selbst. Jack the Ripper entfachte einen weltweiten Medienrummel, es entstand eine Ripper-Hysterie, die auch die Wahrnehmung von London beeinflusste. Die Metropole wurde jetzt verstärkt als gefährlicher Ort gesehen, besonders für Frauen. Für ein zahlungswilliges Publikum mit einem Hang zum Makabren gab es sogar bald eine regelrechte „Ripper-Industrie“. Man konnte sich z.B. schon kurze Zeit nach der schrecklichen Mordserie Gruselkabinetts anschauen, die mit Wachsfiguren die Tatorte nachstellten. Von den unzähligen Verarbeitungen in Sensationsmedien, Groschenheften, Theaterstücken usw. ganz abgesehen. So entstand der Mythos Jack the Ripper.

1894 gab es einen offiziellen Abschlussbericht zum Ripper-Fall, in dem drei Verdächtige genannt wurden, die aus verschiedenen Gründen aber nie eindeutig der Taten überführt werden konnten. Zu dem Zeitpunkt war der fiktive Detektiv mit den ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden, Sherlock Holmes, bereits auf einem ersten Höhepunkt seiner Beliebtheit angelangt. Die Öffentlichkeit fragte sich natürlich: Hätte jemand wie Sherlock Holmes den Ripper-Fall lösen können? Tatsächlich stellte Arthur Conan Doyle in einem Zeitungsartikel Überlegungen an, wie der Meisterdetektiv an den Fall herangegangen wäre. Dazu später mehr.

Whitechapel Doré Illustration
Whitechapel im 19. Jhdt., Illustration von Gustave Doré, © wikimedia commons

Eine ganze Ripper-Popkultur

Bis heute ist der Ripper-Fall ungeklärt – ein gefundenes Fressen für eifrige Verschwörungstheoretiker und Hobby-Detektive, aber auch für viele Historiker und Journalisten, ein weiteres Mal auf Spurensuche zu gehen. Der Stoff ist zu aufregend, zu gruselig und zu düster, um im Aktenschrank der Geschichte zu verstauben. In der Popkultur gibt es unzählige Bearbeitungen, darunter selbstverständlich auch zahlreiche Roman-Pastiches, in denen Sherlock Holmes Jack the Ripper sucht. Einen riesigen Rechercheaufwand trieb auch Comic-Autor Alan Moore („Watchmen“). Zehn Jahre ging er zum Ripper-Fall auf Spurensuche – Ergebnis ist die berühmte Graphic Novel From Hell von 1989 in 3 Bänden, die die Fallgeschichte nacherzählt und eine bestimmte Verschwörungstheorie zur Täterschaft verfolgt. In der Lösungsvariante von From Hell hat die königliche Familie höchstpersönlich ihre Finger im Spiel. Der Comic wurde 2001 mit Johnny Depp in der Hauptrolle als Inspector Abberline verfilmt. (Die Filmhandlung weicht allerdings in einigen entscheidenden Punkten von der Graphic Novel ab – das Ende, nun ja – so muss Hollywood wohl Filme machen.)

Warum konnte Scotland Yard den Ripper nie stellen? Lasst uns einen kurzen Blick auf die Arbeitsweise der Londoner Polizei im späten 19. Jahrhundert werfen und dafür die berühmte Mordserie aus dem Jahr 1888 als Beispiel heranziehen. Anschließend vergleiche ich die Vorgehensweise von Sherlock Holmes mit der der Polizei, wie sie auch immer in den Holmes-Geschichten gegenübergestellt wird.

Whitechapel Illustration
Polizeistreife in Whitechapel, Illustration von Gustave Doré. © wikimedia commons

Der Londoner Polizist: Mehr Soldat als Ermittler

Bereits im Jahr 1829 wurde Scotland Yard als Polizeieinheit gegründet, die sich um die Verbrechensverhinderung und -bekämpfung in der aufstrebenden Metropole kümmern sollte. Die Behörde ähnelte aber mehr einer militärischen Einheit mit streng reglementierten Zuständigkeiten. Ein Streifenpolizist durfte z.B. nicht von seiner Route abweichen, egal, was in der Zwischenzeit passierte. Beim zweiten Ripper-Mord konnte kein Polizist schnell zum Tatort kommen, weil der angesprochene constable seinen Posten nicht verlassen durfte und auf einen Kollegen verwies, der aber vom Zeugen nicht auffindbar war. Ein schnelles Reagieren, z.B. schnelles Sichern eines Tatorts und das Sammeln von (möglichst frischen) Spuren war so schlicht nicht möglich. Die Folge: Der Mörder von Whitechapel blieb unentdeckt, die bestialischen Tötungen von Prostituierten ging über mehrere Wochen im Herbst 1888 weiter.

Die Lloyd’s Weekly London Newspaper kritisierte das Fehlverhalten der Polizei im Ripper-Fall folgendermaßen: „The truth is that the military organisation of the police is at fault. The soldier is habitually trained simply to obey orders. To think for himself is a fault: to express his thought is a crime. The result is a woodenness which is so often characteristic of old soldiers. With the military spirit pervading the entire police force, woodenness is inevitable.“ Der Zeitungsartikel schließt mit der Forderung, Scotland Yard solle jeden Mitarbeiter dazu ermutigen, nicht nur seine Körperkraft, sondern auch seinen Intellekt einzusetzen – eine Forderung, die wohl auch von Sherlock Holmes persönlich hätte kommen können.

Ein ganz neuartiger Ermittler: Sherlock Holmes

Bereits in seinen frühesten Fällen kritisiert Sherlock Holmes den Mangel an Kreativität und eigenständigem Denken der staatlichen Polizeikräfte. Sie stellen z.B. keine eigenen Überlegungen an, sondern begnügen sich mit den offensichtlichsten Hinweisen. Das führt dann meist dazu, dass völlig Unschuldige eines Verbrechens überführt werden. Im Fall Silver Blaze bemerkt Holmes z.B.: „See the value of imagination. It is the one quality which [Inspector] Gregory lacks. We imagined what might have happened, acted upon the supposition, and find ourselves justified.“ (aus: The Memoirs of Sherlock Holmes, S. 26). Was Holmes damit meint, ist: ein guter Detektiv benutzt seine eigene Kreativität und versucht, der Lösung auf die Spur zu kommen und wartet nicht, bis sich zufällig neue Hinweise ergeben. Neben dieser Schwerfälligkeit des Denkens neigen Inspector Lestrade & Co. dazu, sich von Vorurteilen und voreiligen Schlüssen leiten zu lassen. Als am Tatort von A Study in Scarlet in deutscher Sprache RACHE an der Wand geschrieben steht, muss natürlich ein Deutscher für den Mord verantwortlich sein. (Was sich hinterher als falsch herausstellt.) Holmes‘ wichtigster Wahlspruch ist daher: „It is a capital mistake to theorise before you have all the evidence. It biases the judgement.“ (A Study in Scarlet, S. 37). Holmes stellt erst alle Spuren sicher, bevor er seine Schlüsse daraus zieht.

Sherlock Holmes ermittelt
© wikimedia commons

Im Ripper-Fall aus dem realen London lassen sich ähnliche voreilige Schlüsse durch die Polizei feststellen, z.B. führte ein Graffiti an der Wand in der Nähe eines Tatorts dazu, dass eine Hetzjagd auf jüdische Männer im Viertel veranstaltet wurde. Die Schrift lautete: „The Juwes are the men that will not be blamed for nothing.“ Darunter lag ein Fetzen eines blutigen Kleidungsstücks, das wahrscheinlich vom Mordopfer der vorherigen Nacht stammte. Es war allerdings fraglich, ob die Schrift tatsächlich etwas mit den Morden zu tun hatte, wann sie dorthin gekommen war usw. Außerdem hatte man es versäumt, die Schrift zu fotografieren, bevor man sie abwusch, und so war man über den Wortlaut des Graffiti nicht ganz sicher. Arthur Conan Doyle hat sich daher durchaus von realen polizeilichen Ermittlungsmethoden seiner Zeit inspirieren lassen.

Spurensuche? Fehlanzeige

Wir dürfen aber nicht vergessen: Sherlock Holmes war eine Ausnahmeerscheinung. Das Bewusstsein über die Wichtigkeit von Spuren (am Tatort, an Erpresserbriefen, an der Kleidung von Verdächtigen etc.) kam gerade erst in der Allgemeinheit an. Die Forensik, also die Untersuchung von kriminellen Handlungen mit wissenschaftlichen und technischen Hilfsmitteln, steckte noch in der absoluten Kinderstube. Man wusste schon um die Signifikanz von Fingerabdrücken, aber erst um 1900 konnte die Daktyloskopie systematisch bei der Aufklärung von Verbrechen eingesetzt werden – es fehlte vorher einfach an geeigneten Verfahren, um Fingerabdrücke überhaupt sicherzustellen und auszuwerten.

Gemessen an dem Wissen, das Scotland Yard damals zur Verfügung stand, machte es daher einen verhältnismäßig guten Job – auch beim Ripper-Fall. Es wäre ein Fehler, unsere heutigen Standards bei der Verbrechensbekämpfung auf das viktorianische Zeitalter zu übertragen. Zusätzlich wurde der Polizei durch verschiedene Umstände die Arbeit erschwert. Das im damaligen Londoner East End herrschende soziale Elend ist heute wahrscheinlich kaum vorstellbar. Die Ripper-Morde geschahen in einem chaotischen Umfeld, das gezeichnet war von Überbevölkerung, bitterer Armut, Dreck und Kriminalität. Dazu kamen das riesige Medienecho und die darauffolgende hysterische Stimmung in der Öffentlichkeit, die vielen Falschmeldungen, gefälschten Bekennerbriefe usw. (Am bekanntesten ist sicher der berüchtigte „From Hell“-Bekennerbrief, sehr wahrscheinlich die Fälschung eines Sensationsjournalisten.)

Bekennerbrief From Hell Jack the Ripper
“From Hell”-Bekennerbrief © wikimedia commons

Lange war außerdem ungeklärt, ob es sich überhaupt um nur einen Ripper handelte oder verschiedene Täter, die ähnlich mordeten. Unklar war auch, welche Opfer alles zu den Ripper-Morden gezählt werden konnten. Man einigte sich im Rückblick auf die „kanonischen Fünf“, fünf Frauen, die zwischen September und November 1888 in Whitechapel ermordet wurden. Beispiellos war auf jeden Fall die extreme Gewalt gegen die Opfer, die teilweise buchstäblich zerstückelt aufgefunden wurden. Eine Mordserie dieser Art hatte es einfach noch nie gegeben, und die Polizei war davon überfordert.

Das Vorgehen bei den Ripper-Morden: Ein Stochern im Nebel

Jahrzehntelang verließ sich Scotland Yard beim Stellen eines Täters allein auf Zeugenaussagen und, wenn nötig, erpresste Geständnisse – so auch beim Ripper-Fall. Scotland Yard startete weit gestreute Aufrufe an Augenzeugen, sich mit sachdienlichen Hinweisen zu melden. So kamen an die 2000 Verhöre zu Stande und um die 100 Verdächtige wurden zeitweilig verhaftet. Es gab einige Augenzeugenberichte, die die Opfer mit dem mutmaßlichen Täter gesehen haben wollen. Zusätzlich verstärkte die Londoner Polizei massiv ihre Präsenz im Mord-Viertel Whitechapel. Eines der Opfer wurde nur 10 Minuten nach der Tat gefunden, die Polizei war dem Killer also zeitweilig wirklich eng auf den Fersen.

Nichtsdestotrotz erinnerte diese Vorgehensweise an ein Stochern im Nebel (was auch viele Satiremedien zu der Zeit spöttisch in Karikaturen aufgriffen). Die Tätersuche wäre um Einiges effizienter gewesen, hätte Scotland Yard schon Sherlock Holmes‘ Methoden der genauen Beobachtung und Schlussfolgerung beherrscht. Spuren wären sicher genug vorhanden gewesen, z.B. an den Tatorten oder den Bekennerbriefen, Scotland Yard hat sie sich nur nicht zu Nutze gemacht. Die Untersuchung von Fußspuren, eine Handschriftenanalyse und vieles mehr wären Holmes‘ Mittel der Wahl gewesen.

Wegen diesem Unverständnis über die Wichtigkeit von Indizien und wahrscheinlich auch aufgrund mangelnder Organisation passierten einige Ermittlungs-Patzer im Ripper-Fall, die hätten verhindert werden können. So wurden zwei der Opfer im Leichenschauhaus entkleidet und gewaschen, bevor sie von den Ermittlern untersucht werden konnten. Alle Spuren waren danach natürlich beseitigt.

ripper karikatur punch
Eine Karikatur der Polizei, die beim Ripper-Fall im Dunkeln tappt, aus dem “Punch”-Magazin. © wikimedia commons

Ansätze für frühes „Profiling“ im Ripper-Fall

Modern kann man trotzdem den Ansatz von Scotland Yard nennen, ein frühes „Täter-Profiling“ zu erstellen. Der Torso der Mordopfer wurde jedes Mal aufgeschlitzt, innere Organe fachmännisch entfernt und z.T. mitgenommen oder am Tatort verteilt (gruselig, ich weiß). Man vermutete daher einen Mediziner, Schlächter oder Barbier (die damals auch einfache Operationen an Kunden durchführten) hinter Jack the Ripper. Im East End gab es viele jüdische Barbiere, die schnell in den Fokus der Ermittlungen rückten (ja, die Geschichte wiederholt sich immer wieder). Zudem fanden alle Morde am Wochenende statt – Jack the Ripper war demnach ein Arbeiter oder jemand, der den Anschein erwecken wollte, er sei einer. Dieses Profil schränkte den Kreis der Verdächtigen natürlich nicht genau genug ein.

Was der Kriminalistik damals noch fehlte, war ein Verständnis von Tätersuche als Wissenschaft, die nicht von Zufällen oder subjektiven Interpretationen abhängt. Genau das ist der Verdienst von Sherlock Holmes: die Verbrechensaufklärung zur Wissenschaft zu erheben, indem er sie mit wissenschaftlichen Methoden angeht.

Der Beginn der Kriminalistik als Wissenschaft

In einem berühmten Interview erklärte Arthur Conan Doyle einmal, ihn habe an den altmodischen Detektivgeschichten aus seiner Jugend immer gestört, dass der Ermittler immer nur per Zufall auf die Lösung des Falles kam. Oder dass einfach gar nicht erklärt wurde, wie er den Fall löste. Als Arzt hatte er ein Verständnis von wissenschaftlicher Vorgehensweise und beschloss, diese Methodik in einer ganz neuartigen Detektivfigur darzustellen: in Sherlock Holmes.
So ist es tatsächlich die von Arthur Conan Doyle geschaffene Detektivfigur, die erste forensische Ermittlungsmethoden in die Kriminalistik einführte. Sie lassen sich in Motivblöcke unterteilen und kehren so im Holmes-Kanon immer wieder:

  • Die Analyse von Fußspuren,
  • die Analyse von Handschriften,
  • die Analyse von Fingerabdrücken,
  • die Analyse von Schreibmaschinen-Texten,
  • die Analyse von Chiffren und
  • der Einsatz von Spürhunden.

Bleiben wir bei den Fußspuren: Aus ihrer Form und Größe, ihrem Abstand zueinander und ihrem Gangmuster zieht Holmes in vielen seiner Fälle nicht nur Rückschlüsse auf Größe, Geschlecht und Alter des Verdächtigen, sondern kann auch bestimmte körperliche Gebrechen oder sogar seinen Gemütszustand ablesen. Beispiele sind der Täter aus A Study in Scarlet, Holmes’ erster Fall, über den Holmes die Schlüsse zieht: „He was more than six feet high, was in the prime of life, had small feet for his height …“ (A Study in Scarlet, S. 47).7

Aber Holmes geht noch einen Schritt weiter. Er ist einer der ersten Vertreter der forensischen Chemie. Er benutzt nicht nur seine Beobachtungsgabe und zieht Rückschlüsse aus Indizien, er setzt naturwissenschaftliche Verfahren zur Verarbeitung von Spuren ein. Die ominöse Giftpille aus A Study in Scarlet unterzieht Holmes einer chemischen Analyse, ebenso geht er mit der pulverisierten Droge aus The Devil’s Foot vor, deren Reste er am Tatort sichergestellt hat. So versammelt Holmes bereits ab 1887 die Vorläufer der unterschiedlichen forenischen Disziplinen in seiner Person.

Sherlock Holmes bei der Handschriftenanalyse © wikimedia commons

Hätte Sherlock Holmes Jack the Ripper fangen können?

Es ist furchtbar spannend, zu spekulieren, warum die Ripper-Morde nie im Holmes-Kanon erwähnt wurden. Man kann einige Fälle von Holmes im Jahr 1888 verorten, sehr wahrscheinlich A Scandal in Bohemia und Silver Blaze, aber wahrscheinlich auch The Sign of Four. Das Jahr 1888 ist außerdem das Jahr, in dem Watson aus der Baker Street 221b auszieht und Mary Morstan heiratet. Von einem Serienmörder aber keine Spur in Conan Doyles Erzählungen. Der Grund liegt, logisch betrachtet, auf der Hand: Selbstverständlich waren die Ripper-Morde viel zu blutig, viel zu schockierend, als dass Conan Doyle sein bürgerliches Lesepublikum damit hätte konfrontieren können. Es ist trotzdem spannend, sich vorzustellen, wie Holmes in einer nie der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Geschichte Jagd auf den Ripper macht.

Nach dem offiziellen Abschluss der Morduntersuchungen im Jahr 1894 musste sich Scotland Yard endgültig seine Niederlage eingestehen. Die Mordserie hatte zwar im November 1888 aufgehört, aber warum, wusste kein Mensch, und der Täter war auch nicht gefasst. Conan Doyle wurde zu dem Thema interviewt. In dem Artikel „Jack the Ripper“ – How „Sherlock Holmes“ would have tracked him vom Juli 1894 legt er dar, wie sein Held den Fall angepackt hätte.

Es handelt sich nur um ein paar schnell hingeworfene Überlegungen (die URL zu der Website mit dem abfotografierten Artikel findet ihr unten). Conan Doyle nimmt den Bekennerbrief mit der Überschrift „Dear Boss“ vom September 1888 zum Beispiel. Da er der erste Bekennerbrief war, der an die Polizei geschickt wurde, spricht Einiges für die These, dass dieses Schriftstück tatsächlich vom Täter verfasst wurde, während alle nachfolgenden Bekennerbriefe diesen nur nachahmten. Über eine Handschriftenanalyse wäre Holmes zu dem Schluss gekommen, erläutert Conan Doyle, dass der Verfasser oft geschäftsmäßig Briefe schreibt und in guter sozialer Stellung ist (ein Anwalt oder dergleichen). Holmes hätte daher in allen großen Zeitungen Großbritanniens und Amerikas Fotografien des Briefes abgedruckt mit dem Hinweis auf eine Belohnung für denjenigen, der die Handschrift erkennt und Hinweise auf den Verfasser geben kann.

Ganz ehrlich: Dieser Ansatz erscheint mir zwar einleuchtend, und ist im Nachhinein eine nette Gedankenspielerei, wird der schieren Komplexität des Ripper-Falls aber nicht gerecht, wie ich sie oben versucht habe zu skizzieren. Auf wie viele hunderttausend Männer hätte wohl die obige Beschreibung gepasst? Meiner Auffassung nach wäre dieses Vorgehen nur eine Ergänzung zu viel grundlegenderen Untersuchungen gewesen.

Bekennerbrief Dear Boss Jack the Ripper
“Dear Boss”-Bekennerbrief © wikimedia commons

Sherlock Holmes am Tatort in Whitechapel

Hier meine Überlegungen: Mal angenommen, Sherlock Holmes hätte die einzelnen Tatorte untersuchen können (ich hätte ihn nicht darum beneidet), hätte er sicher Fußspuren oder Fingerabdrücke sicherstellen können – allein schon aufgrund der Masse an vergossenem Blut. Er hätte Rückschlüsse auf das Vorgehen und das Motiv des Täters ziehen können – z.B., ob er vor dem Opfer das Zimmer betrat oder nach ihm, in welcher Gemütsverfassung er war, wie er den Tatort verlassen hatte usw. Kleidung und Einrichtung der Opfer hätten sicher noch mehr Indizien abgegeben, vielleicht hätte Holmes sogar eine Faser von der Kleidung des Rippers oder eins seiner Haare gefunden? Das nur als Gedankenspiel. Die Untersuchung der angeblichen Bekennerbriefe wäre erst der zweite Schritt gewesen.

Übrigens: Es gibt doch einen Sherlock-Holmes-Fall, den man als Verweis auf den Ripper-Fall sehen kann. In The Cardboard Box bekommt eine Frau zwei abgeschnittene menschliche Ohren geschickt. Holmes untersucht das Paket und kann so die Identität des Absenders ziemlich genau feststellen. Beim Ripper-Fall (Achtung, eklig) bekam die Polizei eine halbe menschliche Niere geschickt zusammen mit einem (angeblichen) Bekennerbrief von Jack the Ripper. Mit Holmes‘ Deduktions-Methode hätte die Polizei sicher schnell herausgefunden, woher das Paket kam und wer der Absender war.

sherlock Holmes illustration
Illustration Sherlock Holmes von Sydney Paget © wikimedia commons

Holmes heute: Halten seine Methoden einer modernen Prüfung stand?

Ja! Holmes nahm nicht nur die Fingerabdruckanalyse sowie die Analyse von Schreibmaschinentexten voraus (beides wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Standard-Verfahren der modernen Kriminalistik), der Einsatz von Spürhunden und die Dechiffrierung von verschlüsselten Botschaften gehört heute zum täglichen Brot der Kriminalpolizei. Sogar Holmes‘ Handschriftenanalyse im Fall The Reigate Squires, die einem als Leser im ersten Moment etwas spekulativ vorkommt, ist nach heutigem Forschungsstand der Schriftpsychologie gar nicht mehr so weit hergeholt. Holmes schließt z.B. von einer Handschrift auf einen starken Charakter und damit auf den Anstifter des Verbrechens. Allerdings will er auch das Alter von zwei Briefschreibern aus ihrer Schrift ablesen: „You may not be aware that the deduction of a man’s age from his writing is one which has been brought to considerable accuracy by experts.“ (aus: The Memoirs of Sherlock Holmes, S. 158) Nach heutigen Erkenntnissen weiß man: Auf Alter und Geschlecht des Schreibers kann man anhand einer Schriftprobe nicht schließen, wohl aber auf soziale Kompetenz, Intelligenzniveau oder ob der Verfasser eine labile Persönlichkeit aufweist.

Dies lässt sich festhalten: Holmes‘ Methoden sind der Wissenschaft verpflichtet, aber auch er weicht manchmal ins Spekulieren aus. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass Holmes viele Methoden der modernen Kriminalistik vorweggenommen und ihre Wichtigkeit als erster mit solcher Publikumswirksamkeit verteidigt hat.

 

Seid ihr auch so fasziniert vom Ripper-Fall? Und findet ihr die Ermittlungsmethoden von Sherlock Holmes überzeugend? Schreibt euren eigenen Artikel zu den kriminalistischen Hintergründen von Sherlock Holmes und postet ihn unter #bakerstreetblogs.

Wenn ihr noch nicht genug von Grusel und dem Zeitgeist der Sherlock-Holmes-Geschichten habt, lest jetzt den Artikel von fiktion fetzt zum Spiritismus von Arthur Conan Doyle – der Erfinder des super-rationalen Sherlock Holmes glaubte nämlich an Geister und Feen!


Hier habe ich überall recherchiert:

Ermittlungsmethoden von Sherlock Holmes und die Kriminalistik Ende des 19. Jhdts.:

https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2018/01/kriminalistik-ermittler-spuren-tatort

https://www.zeit.de/karriere/beruf/2015-11/graphologie-graphologe-beruf

https://forensicoutreach.com/library/5-ways-sherlock-holmes-inspired-forensic-investigation/

Zum Fall “Jack the Ripper”:

https://de.wikipedia.org/wiki/Jack_the_Ripper

https://www.jack-the-ripper-tour.com/generalnews/the-police-and-the-murders/

https://www.thedailybeast.com/sherlock-holmes-vs-jack-the-ripper

https://thejacktherippertour.com/blog/mistakes-made-by-police-in-the-ripper-case/

https://arthurcdoyle.wordpress.com/2014/09/22/sherlock-holmes-vs-jack-the-ripper/ (Fotografierter Artikel, wie Holmes den Ripper-Fall gelöst hätte)

Meine Werkausgabe der Sherlock-Holmes-Geschichten stammt von der Collector’s Library, London 2005.

3 Kommentare

  1. Guten Abend,

    als großer Fan und jemand, der als Kind super gerne Sherlock Holmes Hörspiele gehört hat, ist das hier echt einer der spannensten Beiträge, den ich beim Litnetzwerk bisher entdeckt habe.
    Vielen Dank für die Mühe und Arbeit, die du mit diesem Beitrag gehabt haben musst.

    Alles liebe Chrissi

    • Hi Chrissi,
      oh, vielen Dank fürs Lob! Ja, der Artikel war vor allem emotional ein viel größerer Brocken als vorher angenommen. Ich meine, es ist ein wahnsinnig spannender Fall, und ich stehe auf Grusel, aber man wühlt dann doch nicht gerne tagelang in Artikeln über einen grässlichen Serienmörder. Auf Wikimedia Commons gabs auch Bilder von den Opfern im Leichenschauhaus – brrrrr.
      Ich finde diese Gedankenspiele, was wäre gewesen wenn, einfach super spannend. Eine meiner neuen Lieblingsautorinnen, Lyndsay Faye, hat auch eine Sherlock-Holmes-Pastiche geschrieben, in der Holmes Jack the Ripper jagt. Vielleicht muss ich mir das doch noch mal zu Gemüte führen.
      LG, Sabine

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Ich stimme der Datenschutzerklärung zu.