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Popkultur unter der Lupe Pygmalion: Die perfekte Frau erschaffen

Jessica Jones Staffel 1: Alles Antihelden

Jessica Jones in Staffel 1: Antiheldin, Opfer oder Täterin? Kurz vor dem Start von Staffel 2 möchte ich einen Blick auf die fulminante erste Staffel der Netflix-Originals-Serie werfen. Hier werden nicht nur einige traditionelle Erzählmotive zugunsten eines feministischen Blickwinkels verändert. Die Serienmacher wenden einige erzählerische Kniffe an, um den Zuschauer emotional aufs Glatteis zu führen. Diese Serie vergisst man so schnell nicht mehr.

Viele Kritiken haben sich bereits mit der 1. Staffel von Jessica Jones beschäftigt und ihr feministisches Potential lobend hervorgehoben. Die Erzählweise ist eigentlich ganz einfach: Man nehme ein altbekanntes, männlich dominiertes Filmgenre und besetze einfach alle Rollen gegengeschlechtlich. So wird aus dem zynischen, erfolglosen Ermittler aus dem film noir die Ermittlerin Jessica Jones, aus dem besten Freund die Stiefschwester Trish und aus dem korrupten Anwalt die lesbische Anwältin Jeri Hogarth. Nicht zu vergessen die femme fatale, ein unabdingbares Motiv des film noir: aus ihr wird der männliche Gegenspieler mit dem „subtil“ sprechenden Namen Kilgrave.

Jessica Jones Staffel 1: Die Geschlechterverhältnisse auf den Kopf gestellt

Auf den ersten Blick wurde nicht viel verändert, die Erzählweise bleibt gleich. Aber je mehr Frauenfiguren auftauchen, desto klarer wird: Eine toughe Protagonistin allein macht keine feministische Sichtweise. Die konsequente Verkehrung von Figurenbeziehungen tut es. Alle relevanten Figuren sind weiblich, die Männerfiguren sind entweder „eye candy“ oder böse. Kommt euch das bekannt vor?  Nur umgekehrt, versteht sich? Klar, die meisten Filmgenres funktionieren so, der Protagonist ist ein Mann, er ist umgeben von männlichen Helfern, Frauen dürfen das love interest des Helden spielen, und vielleicht noch die rachsüchtige Exfreundin. Das war’s. Die Vorführung dieser plumpen Mechanismen gelingt Jessica Jones ganz hervorragend. Dabei ist es der Serie ganz nebenbei gelungen, eine völlig Marvel-untypische Antiheldin aufzubauen, die nicht einfach bloß hart und männlich daherkommt. Im Gegenteil: Jessicas Verletzlichkeit, die sich nicht zuletzt in ihrer Alkoholsucht äußert, macht die Figur erst interessant.

Jessica Jones Staffel 1: Spannung und comic relief

Aber auch mit den Zuschauer-Erwartungen an bestimmte Figurentypen spielt Jessica Jones in Staffel 1, ganz abseits der Geschlechterverhältnisse. In keiner Kritik, die ich gelesen habe, wurde je erwähnt, dass der Bösewicht Kilgrave gleichzeitig für die meisten Lacher in der Serie sorgt. Seine Figur wird als konstante, im Verborgenen lauernde Bedrohung aufgebaut. Erst in Folge 3 sieht man zum ersten Mal sein Gesicht, und die alptraumhaften flash backs von Jessica geben nur kleine Hinweise auf das Martyrium, das sie durch ihn und seine Fähigkeiten der Gedankenkontrolle erlitten haben muss.

So wächst die Bedrohung kontinuierlich, es kann eigentlich nur auf eine erneute Geiselnahme oder einen Kampf auf Leben und Tod mit Kilgrave hinauslaufen, und wie wird die Spannung aufgelöst? Er macht ihr in Folge 7 eine Liebeserklärung, wenn auch eine reichlich gruselige. Seine Verleugnung der Realität (z.B. dass er gleichzeitig 20 Polizisten zwingt, sich die Waffe an den Kopf zu halten, damit Jessica nicht versucht, zu fliehen) ist so aberwitzig, dass sie immer wieder für den nötigen comic relief sorgt. Kilgrave will nicht einsehen, dass Jessica seine Bemühungen nicht für total romantisch hält, und versucht, sie mit halb ironischen, halb neckenden Kommentaren (in bestem schottischem Akzent, einfach herrlich), aus der Reserve zu locken. Jessicas bissige Bemerkungen hingegen sorgen höchstens mal für ein grimmiges Lächeln beim Zuschauer. Kilgrave bekommt bizarrerweise fast einen positiven Touch, wenn ihr wisst, was ich meine. (Und das schreibe ich nicht nur, weil ich seinen Darsteller David Tennant als Doctor Who so witzig finde – bei meinem ersten Schauen von Jessica Jones hatte ich noch keine einzige Folge Doctor Who geschaut.) Tennant vermischt hier abstoßende mit sympathischen Charaktereigenschaften auf eine ganz sonderbare Weise.

Antihelden, wohin man schaut

Jessica Jones‘ frühere Superheldinnenkarriere wird in der Serie nur angedeutet. Traumatisiert durch ihre Entführung hat sie aufgehört, ihre übermenschliche Stärke dafür einzusetzen, Menschen zu helfen. Schuldgefühle spielen wohl auch eine Rolle: Warum war sie nicht stark genug, sich Kilgraves „mind control“ zu widersetzen? Im Gegenteil, ihre Superheldenkräfte haben sie erst für ihren Peiniger interessant gemacht. Ein tragisches Dilemma, aus dem die kratzbürstige Antiheldin entsteht, die wir in Folge 1 zuerst zu sehen bekommen. In die Rolle der durchweg positiven Identifikationsfigur passt sie sicher nicht, wenn man sie mit anderen Superheldinnen wie Wonder Woman vergleicht. Sie will einfach nur die Kontrolle über ihr Leben zurück, aber ihre Desillusionierung hindert sie daran, sich wieder für andere einzusetzen.

Ihren Gegenspieler Kilgrave als durchgehend sadistischen Psychopathen darzustellen (wie es meines Wissens nach in der Comic-Vorlage geschieht), hat den Serienmachern hier nicht gereicht. Ganz überraschend kommt mit seiner Figur eine weitere tragische Dimension ins Spiel. Deutlich wird das, als Jessica ihm zum ersten Mal vorwirft, er habe sie vergewaltigt. Er behauptet, das sei nicht seine Absicht gewesen. „How was I supposed to know? I never know if someone is doing what they want or what I tell them to!“ Seine Zuneigung zu Jessica scheint echt zu sein, er hat nur nie gelernt, sie auszudrücken und sich im Gegenzug die Zuneigung anderer zu verdienen. Ziemlich bitter, diese Gedankenkontrolle. Das macht natürlich seine völlig empathielose Zerstörungswut, jeden dazu zu bringen, sich zu töten, der ihm nicht in den Kram passt, nicht weniger abstoßend.

Opfer-Täter-Beziehungen in Jessica Jones Staffel 1

Die emotional aufwühlendste Folge war für mich Nummer 9, die Episode, in der Jessica Jones Kilgrave endlich in ihrer Gewalt hat und in einer Zelle mit Glaswand gefangen hält. Auch beim erneuten Anschauen war mir eigentlich die ganze Zeit schlecht. Der Grund dafür war die beunruhigende Verwirrung von Opfer-Täter-Beziehungen in dieser Folge: Man empfindet unwillkürlich Kilgrave als Opfer und Jessica als Bedrohung, als sie sich entschließt, zu ihm in die Zelle zu gehen und ihn zu provozieren, damit sie auf Video aufzeichnen kann, wie er seine Kräfte einsetzt. Sie rächt sich an ihm, indem sie ihn emotional und körperlich fertig macht, und obwohl er es verdient hat, tat mir Kilgrave leid. Dasselbe mit seinen Eltern später: Hatte er es verdient, als Kind von seinen Eltern verlassen zu werden, weil er ihnen gefährlich wurde? Hier wird die Frage aufgeworfen, ob Kilgrave für seinen kriminellen Werdegang verantwortlich gemacht werden kann.

Das Pygmalion-Motiv bei Jessica Jones Staffel 1

Kilgrave erklärt Jessica zwar: „ I’m the only one who matches you. Who challenges you.“, es geht ihm aber trotzdem nur darum, eine zweite Version seiner selbst aus ihr zu schaffen: Materialistisch, oberflächlich, empathielos. Vielleicht fällt es erst beim zweiten Schauen auf, wie sehr sich die Jessica Jones aus den Rückblicken mit Kilgrave schon äußerlich von der jetzigen, traumatisierten Jessica unterscheidet. Sie wirkt zehn Jahre jünger, weil er sie in mädchenhafte lange Kleider oder pelzbesetzte Mäntel steckt. Später sieht man sie nur noch in Jeans und Lederjacke sowie dunkel geschminkten Augen, die ihre düstere Miene unterstreichen. Aber diese „echte“ Jessica zählt nicht. Kilgrave kreiert aus ihr, ähnlich wie der Bildhauer Pygmalion aus dem antiken Mythos, die Traumfrau, die er gerne hätte. Seine Vorstellung von perfekter Weiblichkeit sind dabei so naiv wie klischeehaft. Außer einem püppchenhaften Äußeren verlangt er ständige Demut und Dankbarkeit von ihr. In einem Rückblick beklagt er sich, dass sie nie zu schätzen wisse, was er für sie tue. Sie mit Luxus zu überhäufen ist die einzige Art von Wertschätzung, die er kennt. Diese Unterdrückung Jessicas halte ich für eine weitere feministische Kritik der Serie am gebräuchlichen Machtmissbrauch von Männern gegenüber Frauen.

Fazit

Ganz klar, es geht um Macht in Jessica Jones, wer sie ausübt, wer sich beugen muss und wie Machtverschiebungen dargestellt werden. Es geht aber auch um die Erschaffung von alternativen Narrativen. Je nach erzählender Figur bekommen wir als Zuschauer eine andere Sicht auf die schrecklichen Dinge, die vor dem Beginn der Serie passiert sind – oder werden zumindest in unserer Sicht der Dinge erschüttert. Für Kilgrave sind Jessicas traumatische Erinnerungen an ihn „revisionist bullshit“, Jessica wiederum redet sich ein, sie könne ihr altes, optimistisches Selbst zurücklassen. Am Ende muss sie sich eingestehen, dass ihr nicht alles egal ist und sie sich vielleicht doch in die Rolle der Heldin fügen kann, wenn es anderen Menschen hilft.

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7 Kommentare

  1. Nicci Trallafitti 5. März 2018

    Hey!
    Ein super spannender Artikel, der noch mehr Lust auf Staffel 2 macht.
    Ich bin ein großer Fan von Jessica, jetzt sogar noch mehr als vorher.
    Danke!

    Liebe Grüße,
    Nicci

    Antworten
    1. Sabine 5. März 2018

      Hey Nicci,
      das freut mich! Ich bin schon sehr gespannt auf Staffel 2, da wird’s dann sicher wieder viel Stoff zum Diskutieren geben. 🙂
      LG, Sabine

      Antworten
  2. Ariane 4. März 2018

    Hallo,

    ich finde auch Trishs Verarbeitungsweise ihrer Kindheit gut. Die Unterdrückung von der Mutter und das Aufschauen zu Jessica. Sie möchte am liebsten, dass Jess wieder als Jewl Leuten hilft und trainiert Kampfsport, um ihr vielleicht sogar als Sidekick zur Seite zu stehen. Dabei will sie mehr als „die Frau hinter den Computern“ zu sein. Auch sie will körperlich stark sein und stellt sich ihren Kämpfen.

    Viele Grüße
    Ariane

    Antworten
    1. Sabine 5. März 2018

      Hi Ariane,
      ja, das ist wirklich eine tolle Backgroundstory von den beiden – wie Jessica eigentlich nur aus Publicity-Zwecken in Trishs Familie aufgenommen wird, die beiden sich dann aber zusammen tun. Das mit dem Kampfsport von Trish habe ich nicht ganz kapiert. Meint sie nicht an einer Stelle, sie wolle nie wieder Opfer sein? Da muss noch irgendwas passiert sein, sie möchte sich ja sicher nicht nur gegen ihre Mutter verteidigen.
      Ich bin gespannt, wie es bei den beiden in Staffel 2 weiter geht!
      LG, Sabine

      Antworten
  3. Elisa 4. März 2018

    Hallo Sabine,

    toller Beitrag. Mir gefiel Jessica Jones auch sehr gut und ich freue mich schon auf die zweite Staffel.
    Eine Sache, die ich ebenfalls an der Serie mag, ist die Freundschaft zwischen Jessica und Trish. Es werden in Serien, Filmen und Büchern leider selten Frauenfreundschaften dargestellt, vor allem solche in denen es auch mal um was anderes geht als das Liebesleben. Es werden so häufig Männerfreundschaften gezeigt und ich mag einige von denen gerne, aber ich vermisse schon länger ähnlich tiefe Beziehungen zwischen Frauen in den Geschichte, die ich lese bzw. sehe.

    Liebe Grüße
    Elisa

    Antworten
    1. Sabine 4. März 2018

      Hi Elisa,
      da hast du völlig recht, das ist sehr erfrischend! Als ob Frauen untereinander nur über Männer reden würden *Augenroll*
      Danke fürs Kompliment!

      Antworten

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