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Tote Mädchen lügen nicht: Das seltsame Unglück, ein Teenager zu sein

Den Jugendroman Tote Mädchen lügen nicht (Thirteen Reasons Why im Original) hätte ich beinahe nicht zu Ende gelesen. Das Durchhalten hat sich am Ende aber doch gelohnt. Der Roman erzählt vom seltsamen Unglück, ein Teenager zu sein und von einem schmerzhaften „Coming of Age“.

Das Buch, das ich hier an dieser Stelle besprechen möchte, passt gar nicht richtig in meinen Blog. Am Ende werdet ihr sehen, warum. Es handelt sich um den Roman Thirteen Reasons Why* von Jay Asher (die deutsche Übersetzung heißt Tote Mädchen lügen nicht und ist 2009 bei cbt erschienen). Vor ein paar Tagen hatte ich auf Netflix gesehen, dass die Serienadaption zu dem Jugendroman bald online gehen wird. Ich fand die Erzählweise gleich spannend: Ein Junge hört sich die Kassetten eines toten Mädchens an. Auf diesen Tonbändern erklärt das Mädchen, warum es Selbstmord begangen hat und benennt die 13 Empfänger der Tonbänder als Schuldige an ihrem Tod. Klingt nach Krimi, Mystery, vielleicht sogar ein bisschen Horror! Ich kaufte mir die Romanvorlage, um zur Veröffentlichung der Serie etwas darüber schreiben zu können. Vielleicht würde sich das Mädchen, das sich da im Rückblick offenbart, als spannende Frauenfigur erweisen.

Über gute und schlechte Jugendliteratur

Damit ging die Durststrecke los! Denn ich muss leider sagen, dass mir die erste Hälfte des Romans nicht gefallen hat. Ich gebe euch meine „Thirteen Reasons Why“ (haha) und erkläre dann, warum es sich aber trotzdem lohnt, das Buch zu lesen.

Es fängt mit M an und hört mit -obbing auf

Der erste Grund, warum mir der Roman zunächst nicht zusagte, ist der wohl subjektivste, ich will ihn aber trotzdem nennen und so zur Diskussion freigeben. Beim Kauf des Buches hatte ich natürlich Erwartungen an die Handlung. Was wäre wohl die Auflösung? Warum hat sich Hannah Baker umgebracht? Was hat Clay Jensen, der Hörer, damit zu tun? Ich hatte so dramatische Gründe wie Vergewaltigung, Mord und Drogenmissbrauch erwartet, eine High-School-Verschwörung vielleicht, die ganze Palette des Thriller- und Krimi-Genres. Zeitgleich wusste ich, dass es sich um einen Roman für Jugendliche handelt. Trotzdem war ich enttäuscht, als ich den Anfang des Buches las, denn hier wird schon deutlich, worum sich die Handlung drehen wird: um Mobbing. Hannah Baker wird Opfer von übler Nachrede an ihrer Schule, genauer, sie wird als Flittchen hingestellt.
Uff.
Ich war kurz davor, das Buch in die Ecke zu werfen. Das soll es jetzt gewesen sein? Ich fühlte mich betrogen. Auf dem Buchcover wird aus der Rezension der Chicago Tribune zitiert: „Eerie, beautiful, and devastating.“ Wie wäre es mit „Einfallslos, langweilig und zermürbend“? Natürlich ist Mobbing ein wichtiges Thema für Teenager, aber trotzdem: Wohl jedes zweite Jugendbuch handelt davon. In der siebten Klasse wurde ich von meiner Deutschlehrerin mit einem unsäglichen Buch namens Wer stoppt Melanie Prosser? gequält. Ich kann mich nicht mehr an die genaue Handlung erinnern. Aber es ging um eine gewisse Melanie Prosser, die andere Kinder mobbt. Und schon mit 13 fühlte ich mich dezent unterfordert von diesem betulichen Quatsch, den die Lehrer sich da auf den Lehrplan setzen lassen. Führt man so Jugendliche an die Literatur heran? Wohl kaum.
Ich las aber trotzdem erstmal weiter, fand die Ausführungen der gequälten Hannah Baker aber ziemlich ermüdend. Ihre Probleme erschienen mir unfassbar unspektakulär. Nur so viel: Es geht um sexuelle Belästigung, die das Mädchen z.B. vom schulbekannten Macho erleiden muss. Und das soll es jetzt gewesen sein?, fragte ich mich. Nun gut, ich las weiter. Mit 13 hätte ich diese Ausführungen wohl ziemlich dramatisch gefunden. Trotzdem wurde ich immer genervter, nein, wütend.

Der Leser ist kein Vollidiot!

Denn die erste Hälfte des Romans fühlte sich für mich so an wie ein extra als Schullektüre komponiertes Lehrstück über Mobbing unter Jugendlichen. Die „Bösen“, die Hannah als Schuldige an ihrem Tod benennt, sind unerträglich stereotype Figuren. Da wäre zum Beispiel die „falsche Schlange“, die zu allen an der Schule freundlich tut, aber nur beliebt sein will. Hannah wird von ihr als Fahrgemeinschaft zur Party benutzt. Big Drama. Oder noch besser: Der angepasste Clay, aus dessen Perspektive wir Hannahs Kassetten anhören, trifft kurz auf seine ehemalige Sandkastenliebe. Und wisst ihr, woran man erkennt, dass dieses Mädchen eine Außenseiterin an der Schule ist: Sie trägt weite Klamotten. Ist doch klar wie Kloßbrühe: „She dresses in dull, loose clothing every day. (…) One day, at least it seemed that fast, she stopped wanting to be a part of anything.“ (S. 104-105).

Thirteen Reasons Why Cover

© Penguin Random House

Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann ist es das „Für-Dumm-Verkaufen“ des Lesers (oder Zuschauers). Es spricht nichts dagegen, in einem Jugendbuch die notorischen Charaktere wie „der Macho“ oder „die Zicke“ darzustellen. Aber doch bitte nicht so plump. Die Betulichkeit der Charakterisierungen hatte für mich einen unangenehm moralisierenden Nachgeschmack. Und auch ein weiterer Aspekt fühlte sich für mich wie ein „erhobener Zeigefinger“ an. Hannah macht mehrmals sarkastische Bemerkungen über das ausschweifende Feiern ihrer Schulkameraden am Wochenende: „drinking and sex“ (S. 121) seien die hauptsächlichen Freizeitbeschäftigungen ihrer Altersgenossen. Ist das dein Ernst, Jay Asher? Ja, Teenager, trinken, ja, Teenager haben vorehelichen Sex. Soll das jemanden noch schockieren? Aber in Thirteen Reasons Why wird es so dargestellt, als sei Hannah Baker die einsame Stimme der Enthüllung, die die große Heuchelei ihrer Generation aufdeckt. Alkohol und Sex, das war vielleicht in den 50ern anrüchig.

Erzählschwächen und -stärken bei Tote Mädchen lügen nicht

Ok, aber alles das ist vielleicht nur mein subjektiver Eindruck. Objektiv feststellbar ist, vor allem in der ersten Häfte von Thirteen Reasons Why, dass Jay Asher noch keine Erfahrung mit dem Schreiben hatte. Hannahs Erzählstimme klingt zuweilen aufgesetzt, ihre Wut künstlich. Es wird vieles zu langatmig erklärt, als dass der Text etwas fühlbar machen würde. Zum Beispiel bekam ich erst spät im Roman ein Gefühl für die Schauplätze. Erst als Clay beginnt, von dem Kino zu erzählen, in dem er und Hannah gemeinsam arbeiteten, ändert sich das. Zu Beginn bleiben die Schauplätze flach und austauschbar, es kommt keine Atmosphäre auf. Dem Roman hätte etwas mehr „showing“ statt „telling“ gutgetan. Ich finde, das hat auch wieder viel damit zu tun, wie viel Komplexität ein Autor seinen Lesern zutraut. Oder eben, wie komplex er erzählen kann.

Trotzdem ist das schnelle Hin- und Herswitchen zwischen den Perspektiven von Hannah und Clay spannend. Hannahs Erzählung vom Band ist kursiv gedruckt, Clays Perspektive normal. So muss man sich oft konzentrieren, wer hier gerade wen anspricht, wessen Emotionen gerade zum Ausdruck kommen. Clay gleicht seine Erinnerungen mit denen Hannahs ab, denn bei vielen erzählten Ereignissen war er indirekt oder direkt beteiligt. Dadurch entwirft der Roman ein doppeltes Bild von Hannah: Einmal aus ihrer eigenen, dann aus Clays Perspektive. Zudem zeichnet dann Hannah wieder ein Bild von den angesprochenen Zuhörern, das sich von Clays Bild unterscheidet.

Was hat Clay mit Hannahs Tod zu tun?

Keine Sorge, ich werde nicht spoilern. Aber je mehr Clay persönlich mit Hannahs Geschichte involviert wird, desto besser wird der Roman. Ich meine das zum einen auf der Jetzt-Ebene, in der Clay sich die Tonbänder anhört und so gezwungen wird, sich mit seinen Schuldgefühlen für Hannahs Tod auseinander zu setzen. Er versucht zu Beginn, seine emotionale Beteiligung herunterzuspielen. Er habe Hannah kaum gekannt, sie hätten nur einmal auf einer Party rumgeknutscht. Je weiter der Text fortschreitet, desto mehr begreift man als Leser, dass das gelogen ist. Aber ich spreche auch von der zweiten Ebene im Buch, in der Clays Geschichte mit Hannah erzählt wird. Der emotionale Höhepunkt erfolgt, als Hannah Clay auf der Kassette anspricht und erklärt, was er mit ihrem Tod zu tun hatte. Es sei nur so viel verraten: Es ist sehr traurig und sehr tragisch. Denn wir alle fühlen uns als Teenager mal hilflos und bereuen, uns nicht getraut zu haben, etwas Wichtiges zu tun oder zu sagen, um eine schlechte Situation zu ändern.

Die Ereignisse, von denen Hannah danach noch berichtet (sie spricht noch ein paar Beteiligte mehr an), sind dann leider wieder ziemlich konstruiert. Wie viel Pech kann ein einziges Mädchen haben? Trotzdem habe ich es dann noch genossen, den Roman fertig zu lesen. Das hängt mit Hannahs Charakterisierung zusammen.

Hannah Bakers Charakter in Tote Mädchen lügen nicht

Etwa zur Mitte des Romans hört Hannah auf, eine schablonenhaft austauschbare Figur zu sein. Jetzt bekommt ihr Charakter mehr Fleisch, wird fühlbarer. Ich denke zum Beispiel an die Passage, als sie von ihren dichterischen Versuchen erzählt. Hannah schreibt Gedichte, um ihren Depressionen zu entkommen. Aber auch damit hört sie irgendwann auf, weil sie sich selbst nicht mehr ergründen möchte. Ein sehr gutes Zitat ist in diesem Zusammenhang folgende Aussage von Hannah:

„If you hear a song that makes you cry and you don’t want to cry anymore, you don’t listen to that song anymore. But you can’t get away from yourself. You can’t decide not to see yourself anymore. You can’t decide to turn off the noise in your head.” (S. 178)

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber genau diese Gedanken hatte ich mit 13, 14 zuweilen auch. Hier offenbart der Roman dann doch noch eine Menge Einfühlungsvermögen in die Teenager-Psyche.

Deshalb habe ich mich auch mit dem, aus meiner Perspektive, schlechten Anfang dieses Romans versöhnt. Es geht in dem Roman nicht „nur“ um Hänseleien. Hannah leidet nicht zuallererst unter dem Mobbing. Das Mobbing verstärkt nur das, woran sie schließlich verzweifelt: ihre Einsamkeit und ihre Unfähigkeit, sich selbst zu akzeptieren.

Thirteen Reasons Why Netflix Cover

© Penguin Random House / Netflix

Das eigentliche Coming of Age

Clay wiederum verzweifelt mehr und mehr an seinem Versagen Hannah gegenüber. Thirteen Reasons Why ist deshalb in erster Linie eine „Coming of Age“-Geschichte über Clay Jensen. Hannah wird seine traurige, verlorene Mentorin auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Der angepasste Clay begreift, dass es nicht nur darum geht, gute Noten zu schreiben und ansonsten so wenig wie möglich negativ aufzufallen. Der Roman zeigt auf, wie auch sehr kleine, beiläufige Handlungen eine große Wirkung auf das Leben eines anderen Menschen haben können. Und dass man manchmal mutig für andere sein muss. Das ist doch eine sehr schöne Message für ein Jugendbuch.

Die Serienadaption auf Netflix

Ich habe mir die erste Folge des Netflix Originals von Tote Mädchen lügen nicht angesehen. Positiv aufgefallen ist mir, dass Hannah und Clay in einen größeren Kontext gesetzt werden (ihre Eltern kommen zum Beispiel viel mehr vor). Dadurch werden sie von Anfang an greifbarer als fiktionale Figuren. Die Serienfiguren weichen etwas ab von den Buchfiguren, was ich aber nicht schlimm finde. Hannah ist zu Anfang sehr viel selbstbewusster, als sie sich im Roman darstellt. Clay wiederum ist sehr viel mehr der nerdige Außenseiter, als er es im Buch war. Insgesamt wird eine größere Schere zwischen den beiden aufgemacht, wohl, um die bittersüße Romeo-und-Julia-Komponente stärker zu machen. Sehr auffallend ist, dass der gesamte Schauplatz eine Art „Hochglanzbehandlung“ bekommen hat. Die Serie spielt in einem reichen kalifornischen Vorort (man sieht einmal in der Ferne die Golden Gate Bridge). Clay wohnt quasi in einer Villa, sein Vater scheint Professor zu sein. Im Buch kam mir der Handlungsort als eine entschieden kleinbürgerliche, verschlafene Kleinstadt vor, ihre Bewohner als bescheidene Leute. Erzählweise und -tempo der ersten Folge haben mir jedenfalls gut gefallen. Die Dramatik des Erzählten wird von Anfang an höhergeschraubt, was ich ehrlich gesagt positiv finde. Die Hänseleien sind gravierender und Clays Trauer um Hannah wird von Beginn an stärker aufgezeigt. Die Serie scheint mir insgesamt dem Buch gerecht zu werden beziehungsweise dessen Erzählschwächen auszugleichen. Eine komplett verlässliche Aussage kann ich darüber natürlich noch nicht treffen.

* Thirteen Reasons Why, Penguin Random House 2007.

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3 Kommentare

  1. Jenny 18. Februar 2018

    Liebe Sabine,

    eine sehr augenöffnende und interessante Rezension zu diesem Buch. Ich habe das Buch damals mit 16(?) gelesen und mich sehr stark damit identifizieren können. Ich fand das Buch großartig und erschütternd zugleich.
    Als dann die Serie auf Netflix erschien, musste ich mir diese natürlich angucken. Das ich das Buch gelesen hatte, war zwar zu diesem Zeitpunkt schon länger her, aber in meiner Erinnerung war es positiv hinterlegt.
    Die Serie fand ich tatsächlich auch äußerst gelungen. Man erfährt viel mehr Hintergrundwissen zu den einzelnen Schülern und baut plötzlich einen ganz anderen Bezug auf.
    Die Serie stellt viel mehr in den Vordergrund, wie subjektiv Hannas Erzählungen sind und das jede Medaille zwei Seiten hat.
    Es wurde viel stärker porträtiert, dass Hanna in einer Schleife gefangen ist, dass sie nicht über ihren Tellerrand hinwegblicken kann und nicht nur einfach „Mobbing“ sie in ein Loch geworfen hat, sondern dass dieses Loch schon vorher entstanden sein muss und sie zu starkem selbstverletzenden Verhalten getrieben hat.

    Ich möchte das Buch gerne nochmal auf englisch rereaden und bin gespannt, wie ich es in meinem jetzigen Alter empfinden werde.

    Liebste Grüße,
    Jenny

    Antworten
    1. Sabine 18. Februar 2018

      Hi Jenny,
      danke fürs Kompliment!
      Ja, ich glaube auch, dass in der Serie klarer wird, dass nicht Mobbing allein der Grund für Hannas Suizid ist. Ich hab nur eine Folge gesehen, kann es also nicht richtig beurteilen, fand aber, dass Hanna in der Serie total beliebt ist und es deswegen irgendwie nicht so glaubhaft ist, dass sie gemobbt wird?
      Ja, lies das nochmal, also zum Teil hab ich echt die Augen verdreht, aber wie gesagt, ich bin schon zu alt 😉 Mit 14 hätte ich es sicher voll dramatisch gefunden. Trotzdem geht mir diese amerikanische Prüderie ein bisschen auf die Nerven (siehe „großer Skandal, Jugendliche saufen am Wochenende und machen sexuelle Erfahrungen“, wäre hätte das gedacht?).
      LG, Sabine

      Antworten
  2. Cathy 29. September 2017

    I feel you!
    Mir ging es mit dem Buch ganz genauso. Ich fand es zuweilen sehr plump und musste oft über den lahmen Schreibstil hinweg sehen. Ich finde das Buch schon irgendwie wichtig, da es eben ein heikles Thema anspricht und aufführt, was für Auswirkungen die eigenen Handlungen auf andere Menschen haben können.
    Die Verknüpfung der beiden Geschichten ineinander fand ich allerdings äußerst gelungen und interessant.
    Die Serie hat im allgemeinen bei mir aber besser abgeschnitten. Die konnte schlichtweg mehr Tiefe erreichen, die Figuren, waren für mich greifbarer und nachvollziehbarer. Das jetzt allerdings noch eine zweite Staffel folgen soll, finde ich überflüssig.

    Antworten

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