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Literatur Weibliche Detektive

Ermittlerin und Antiheldin: Leona Lindberg

Ein ganz normaler Thriller, dachte ich. Von wegen! Ermittlerin Leon Lindberg ist die Antiheldin schlechthin. So bekommt Die Würfel sind gefallen eine gesellschaftskritische Komponente, dir mir sehr gefallen hat.
Eine Antiheldin par excéllence

Eins vorweg: im ersten Band der schwedischen Leona-Reihe (Leona: Die Würfel sind gefallen*) kommt es zu Beginn der Handlung zu einer großen Enthüllung. Um nicht allen die Lust zu verderben, das Buch zu lesen, werde ich versuchen, so wenig wie möglich zu spoilern. Die Figur der Leona Lindberg ist zu gut, um sie nicht in diesen Blog aufzunehmen! Morgen, am 23. September 2016 erscheint übrigens Band 2 der Leona-Reihe auf deutsch. Ich werde natürlich auch darüber schreiben.

Alles beginnt wie in einem „gewöhnlichen“ Thriller, wenn auch die Idee neu ist: Ein kleines Mädchen raubt eine Bank in Stockholm aus. Ja, ein kleines Mädchen! Es ist halb nackt, blutüberströmt und trägt einen Kassettenrekorder bei sich. Vom Rekorder ertönt eine Stimme, die droht, dem Mädchen schlimme Gewalt anzutun, falls die Bankangestellten sich weigern, dem Kind Geld auszuhändigen. Und so kann das scheinbar schwer verletzte Mädchen unbehelligt die Bank um 1,5 Millionen Euro erleichtern.

Ein ganz normaler Thriller, denkt man sich. Nur die Ermittlerin, der der Fall des „Mädchen-Raubs“ im ersten Kapitel übertragen wird, mutet etwas seltsam an. Sie scheint sich nur mühsam unter ihren Mitmenschen zu bewegen, als müsse sie sich gewaltsam an die gängigen Umgangsformen anpassen: „Anette, die Sekretärin des Dezernats, schaute von der anderen Seite des Konferenztisches herüber. Sie lächelte. Ich zog die Mundwinkel hoch. Inzwischen war es zu einem reinen Reflex geworden.“ (Leona. Die Würfel sind gefallen, S. 7) Obwohl aus der Ich-Perspektive von Leona Lindberg erzählt wird, bleibt der Leser doch über den Charakter und die Motivation der Protagonistin oft im Dunkeln. Nur langsam ergibt sich ein Bild dieser ungewöhnlichen Figur. Und es stellt sich heraus: Wenn der Ausdruck „Antiheldin“ auf eine Frauenfigur passt, dann auf diese! Denn sie weigert sich konsequent, dem Rollenbild einer treusorgenden Ehefrau und Mutter zu entsprechen und greift damit gängige Moralvorstellungen an, die der klassische Held, die klassische Heldin normalerweise bedient. Auch das Idealbild der ehrgeizigen Kriminal-Ermittlerin will sie nicht mehr ausfüllen.

Leonas Ausbruchs-Versuch

Schon zu Beginn erwähnt Leona, dass sie ein „Doppelleben“ (S. 7) führt, und spielt, wie später klar wird, auf ihre soziale Inkompatibilität an. Zu „normalen“ Gefühlsregungen ist sie nicht fähig, von der Liebe zu ihren Kindern einmal abgesehen: „Es war […] leichter gewesen, keine Empfindungen zu haben. Als Beatrice geboren wurde, stellte ich zum ersten Mal fest, dass ich die Fähigkeit besaß, tiefe Gefühle zu empfinden.“ (S. 40) Trotzdem, auch diese Liebe kann sie nicht zeigen. Seit ihrer frühen Jugend versucht Leona immer nur, das Sozialverhalten der anderen nachzuahmen. Über ihre Kindheitsfreundin Sanna denkt sie: „Wenn ich nicht wusste, wie ich reagieren oder mich benehmen sollte, ahmte ich Sanna nach. Machte es genau wie sie. Denn Sanna machte nie etwas falsch. Ihre Eltern schimpften sie nie aus. […] Durch sie lernte ich alles, was wichtig war [u]m dazuzugehören.“ (S. 186) Ob es sich bei der Figur Leonas um eine Autistin handelt ist natürlich spekulativ (die Assoziation ist mir zuerst gekommen, denn Menschen mit dieser Entwicklungsstörung können Gefühle schlecht zeigen und deuten). Ich bin der Meinung, der Roman soll ganz einfach eine Figur zeigen, die, ohne etwas dafür zu können, nicht in die gesellschaftliche Norm passt. Und die beschlossen hat, aus dieser Norm auszubrechen.

Leona weiß, dass ihre Kinder spüren, dass sie ihnen ihre Liebe nicht zeigen kann: „Es hatte keinen Sinn, ihnen etwas vorzuspielen. Die Kinder hatten ein untrügliches Sensorium dafür, zu registrieren, wenn etwas nicht von Herzen kam. Meine Gefühle für sie waren immer echt gewesen, aber ich hatte nie Peters natürliche Art besessen. […] Ich würde ihnen nie geben können, was sie benötigten.“ (S. 230)

Leona als polarisierende Figur

So treibt Leona das Klischee des „kaputten Ermittlers“ auf die Spitze: Sie will ihren Job aufgeben, ihren guten Ruf, ihren Ehemann und ihre Kinder hinter sich lassen, um endlich so sein zu können, wie sie in Wirklichkeit ist:

„Tief in meinem Inneren hatte ich es immer gewusst. Auf Dauer wäre es unmöglich gewesen, die Fassade aufrechtzuerhalten. Die Fassade des braven Bürgers, des Durchschnittstypen, des Normalos. Jahrelang hatte ich dagegen angekämpft, hatte mein wahres Ich unterdrückt. […] Und als ich erst einmal begann zu überlegen, was mich eigentlich antrieb, sein zu wollen wie alle anderen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte keine andere Wahl mehr. Ich musste mich befreien.“ (S. 98)

©Atrium Verlag

Bei männlichen Figuren ist dieses Motiv längst schon ein alter Hut. Der Enge des bürgerlichen Daseins entfliehen zu wollen, ist für Protagonisten ein beinahe klassischer Handlungsantrieb. Dann tun dem Leser oder der Leserin zwar Frau und Kind des Protagonisten leid, aber irgendwie hat diese Vorstellung vom „einsamen Wolf“, der sich einfach nicht binden kann, etwas Romantisches. Frauenfiguren hingegen werden sofort als Rabenmütter, egoistische Zicken usw. abgestempelt. Von einer weiblichen Figur, noch dazu von einer Ehefrau und Mutter, erwartet man diesen Freiheitsdrang einfach nicht. Ich bin deshalb wohl selten einer Frauenfigur begegnet, die in ihrer Radikalität großartiger gewesen wäre. Natürlich wird sie als literarischer Charakter dadurch auch unsympathisch. Sie erscheint selbstsüchtig, will sich davonmachen, indem sie sich einredet, ihre Kinder wären besser dran ohne sie (oder sind sie es vielleicht tatsächlich? Wer weiß!). Als Leserin oder Leser entwickelt man unweigerlich eine ambivalente Haltung ihr gegenüber: Man bewundert sie, weil sie tatsächlich Maßnahmen ergreift, um dem gesellschaftlichen Zwang zu entkommen, gleichzeitig wird man immer mehr von ihrer Skrupellosigkeit abgestoßen, die sie einsetzt, um dieses Ziel zu erreichen. Sie kann aber auf kein moralisches Gewissen zurückgreifen, da ihr dieses Konzept als empathieloser Mensch unbegreiflich ist: „Wäre ich ein Gefühlsmensch gewesen, hätte ich bestimmt […] ein schlechtes Gewissen gehabt […]. Auf intellektueller Ebene leuchtete mir der Begriff zwar ein, doch wie sich ein schlechtes Gewissen anfühlte, das hatte ich noch nie erlebt.“ (S. 53)

Leonas Motive sind zwar moralisch fragwürdig, aber immer konsequent. Mit dieser Einschätzung scheine ich eher alleine dazustehen. Bei meiner Recherche stieß ich auf viele Kommentare und Blog-Einträge, die das Verhalten der Protagonistin als völlig unlogisch und schwer nachvollziehbar beurteilten, z.B. hier im Interview mit der Autorin Jenny Rogneby: http://www.gesakram.de/interview-mit-jenny-rogneby/

Auch auf die Gefahr hin, mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen: Einer Männerfigur hätte man diesen Vorwurf nicht gemacht. Von männlichem Freiheitsdrang scheint das Lesepublikum nicht überfordert zu sein, von weiblichem anscheinend schon. Außerdem stellt sich die Frage: Seit wann müssen die Handlungen von fiktiven Figuren immer nachvollziehbar sein? Leona ist ein literarisches Konstrukt, nicht mehr und nicht weniger. Sie kann nicht für jede Leserin und jeden Leser die perfekte Identifikationsfläche bieten. Das wäre ja auch langweilig –  bereiten doch gerade komplexe Figuren, deren Handlungen polarisieren, das meiste Lesevergnügen.

Das aber nur am Rande.

Als Krimi ist Leona. Die Würfel sind gefallen gut konstruiert und besitzt – was meiner Meinung nach sehr wichtig ist – eine Menge Authentizität in der Darstellung des Ermittler-Alltags. (Die Autorin Jenny Rogneby ist selbst Polizistin.) Ich mache diese Glaubwürdigkeit z.B. daran fest, wie Leona die Tücken des Verhörs beschreibt: „Es gestaltete sich jedes Mal schwierig, einem Zeugen den Unterschied zwischen dem, was geschehen sein könnte, und dem, was er tatsächlich gesehen hatte, klarzumachen.“ (S. 72) Außerdem empfand ich die Darstellung der hierarchischen Abläufe in einem Dezernat für Gewaltverbrechen als realistisch beschrieben.

Genauer kann ich leider auf die Ermittlungs-Handlung nicht eingehen, um nicht zu viel zu verraten.

Der Roman endet mit einem bombastischen Cliffhanger – ich bin schon gespannt auf Band 2!

 

*Ich habe die deutsche Erstausgabe des Romans Leona. Die Würfel sind gefallen von Jenny Rogneby verwendet, die 2015 im Atrium Verlag erschienen ist.

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3 Kommentare

  1. Janna | KeJas-BlogBuch 17. Februar 2018

    Na ganz tolle – kannst du dich bitte kurz schämen gehen?! Aufgrund einiger Meinungen flog der Titel von meiner WuLi und du hast ihn gerade mit Wucht wieder rauf katapultiert! Das klingt nach einem Buch welches ich geradezu lesen muss und vielleicht waren die Leser*innen, deren Meinung ich gelesen habe – ganz doof ausgedrückt – überfordert mit einem Empathie-losen Charakter? Mich hast du definitiv mehr als neugierig gemacht!

    Antworten
    1. Sabine 17. Februar 2018

      HAHA! Freut mich, wenn ich dich neugierig gemacht hab! Die Protagonistin ist der Hammer! So komplett trocken und sarkastisch.
      Leider hat mich die Fortsetzung so enttäuscht, dass ich den dritten Band gar nicht erst angefangen habe. Aber urteile selbst!

      Antworten
      1. Janna | KeJas-BlogBuch 18. Februar 2018

        Trocken und sarkastisch – was will ich mehr?! 😀 Und erstmal 1 iregndwann haben und lesen, dann irgendwann mal Band 2, hihi

        So, und jetzt folg ich dir auch endlich mal (=

        Antworten

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