Zu dieser Liste zum #genretag habe ich erstmal einige Tage überlegen müssen – ich hatte Lust, etwas zu schreiben, und ich kann auch ein, zwei Genres aufzählen, die ich mag, so ein richtiger „Genre-Leser“ bin ich trotzdem nicht. Bei Krimis lese ich z.B. nur „Whodunnits“ und wenn ich mal zum YA-Roman greife, muss er eher genre-untypisch sein.
Ich stehe auf Entwicklung, auf gut gezeichnete Psychologie von Hauptfiguren, besonders, wenn es junge Charaktere sind. In Coming-of-Age-Geschichten fließt dies meist auf spannende Art zusammen. Danke an Elena von “Gedankenfunken” fürs Nominieren!
Nenne dein Lieblings-Genre: Coming-of-Age-Geschichten!
Ich mag es, die Entwicklung von Charakteren zu verfolgen, und die lässt sich bei Heranwachsenden einfach dramatischer erzählen. Die seelischen Veränderungen sind (meist) tiefgreifender bei einer Jugendlichen als bei einer z.B. 40-jährigen Protagonistin. Außerdem mag ich es, die Perspektive von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen einzunehmen, weil ihre Konflikte immer noch besser zu mir sprechen als die von älteren Figuren. Ich fühle mich auch als Erwachsene noch relativ unfertig.
Aus Entwicklungs- entstehen außerdem oft Emanzipationsprozesse bei Coming-of-Age-Geschichten, was ich durchweg sehr spannend finde. Und auch, wenn das „Selbständig-Werden, Sich-Abgrenzen“ bei einem Protagonisten nicht funktioniert, interessieren mich die psychologischen Mechanismen dahinter.
Zu guter Letzt enthalten Entwicklungsgeschichten oft eine Krimi-ähnliche Spannung: Die naive Hauptfigur weiß weniger als der (vielleicht schon erwachsene) Leser, oder es gibt eine Rahmenhandlung, in der der gealterte Erzähler im Rückblick von seinen Erlebnissen als Jugendlicher berichtet und kommentiert, welche Fehler er beging. Hitchcock soll gesagt haben, es gebe nichts Spannenderes, als wenn die naive Hauptfigur ahnungslos in eine Situation tappt, und der Zuschauer weiß schon, was passieren wird. Ein bisschen geht es mir so bei meinem Lieblingsgenre.
Bei dem sehr weit gefassten Genre „Coming of Age“ gibt es natürlich viel weniger wiederkehrende Handlungs-Versatzstücke als bei engeren Genres wie Horror oder Romance (denkt zum Beispiel an das gruselige Herrenhaus oder die amerikanische Kleinstadt als beliebte Settings beim Horror-Genre, das meistens auftauchende soziale Gefälle zwischen den Liebenden bei Romance usw.)
Zur Abgrenzung von Young Adult bin ich der Meinung: Beim „klassischen“ YA-Roman mit High School-Setting und der schüchternen Heldin, die sich in den Bad Boy verguckt, steht ganz klar die Liebeshandlung im Vordergrund, weniger die Entwicklung der Heroine. Aber natürlich gibt es auch gute YAs, die eine Coming-of-Age-Geschichte erzählen (Rainbow Rowells Eleanor und Park wäre ein Beispiel).
Das Tolle ist: Gut geschriebene Entwicklungsgeschichten sprechen zu Leser*innen jedes Alters, und bleiben auch nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten noch aktuell.
Das Beste vom Besten: Dein Lieblingsbuch aus diesem Genre
Ganz klar The Secret History (Die geheime Geschichte) von Donna Tartt. Der Roman hat eine unvergleichlich schöne, melancholische Stimmung. Es geht um eine Gruppe Außenseiter an einem kleinen College in Vermont, mit denen sich der Protagonist anfreundet. Er studiert mit ihnen zusammen Altgriechisch bei einem verschrobenen, Dumbledore-ähnlichen Professor. Aber die Idylle trügt (natürlich). Der Protagonist Richard Papen erzählt dies alles mit ein paar Jahren Abstand und deutet am Anfang bereits eine Katastrophe an. Ein sehr lustiges und gleichzeitig sehr trauriges Buch. (Anmerkung: Das Buch hat mich so sehr begeistert, dass ich an der Uni ein Semester Altgriechisch belegt habe. ;-))
Das Buch, mit dem alles begann: Welches Buch hat deine Liebe zu diesem Genre entfacht?
Hm das war wahrscheinlich Harry Potter, wobei ich noch etwas früher, so mit 11, 12 Jahren, die Alanna-Reihe von Tamora Pierce, eine High-Fantasy-Reihe über ein Mädchen, das Ritter werden möchte, verschlungen habe. So weit ich mich erinnern kann, war dort auch ein wichtiges Handlungselement die Entwicklung der Heldin, die nach und nach ihre Naivität ablegt und lernt, sich als Mädchen bzw. Frau anzunehmen.
Hype! Nenne ein Buch, das den Hype wert ist, den es bekommt – und nenne ein Buch, das mehr Hype verdient hätte.
Da es hier um kein eng gefasstes Genre geht, das als solches vermarktet wird, entstehen dazu natürlich auch keine Hypes. Donna Tartts Romane, die alle Coming-of-Age-Geschichten enthalten, haben ihre Hypes aber auf jeden Fall verdient, den letzten gab es um The Goldfinch, der den Pulitzerpreis gewann (siehe dazu auch mein Artikel zu Donna Tartt als Inbegriff meiner Buchpassion). Sie kann die Psyche von Heranwachsenden, die Selbstzweifel, die Selbstüberschätzung usw. sehr gut fühlbar machen.
Als Empfehlung möchte ich an dieser Stelle einen Klassiker erwähnen: Stefan Zweigs Novellen handeln oft von Coming-of-Age-Geschichten und diese verdienen definitiv mehr Aufmerksamkeit, als sie bekommen. In der Schule liest man höchstens noch die Schachnovelle, die aber von Gefangenschaft in einem totalitären System erzählt. In Brennendes Geheimnis geht es zum Beispiel darum, wie ein 12-Jähriger beginnt, die Welt der Erwachsenen und damit die Sexualität zu entdecken. Zweigs einziger vollendeter Roman Ungeduld des Herzens dreht sich ebenfalls um den sehr schmerzhaften Entwicklungsprozesses eines jungen K.u.K.-Leutnants. Klar, das Setting und die Epoche muss man mögen (österreichisches Kaiserreich um 1900) und ich sage es ganz ehrlich: Mit Zweigs Frauenbild bin ich nicht immer einverstanden (bei Ungeduld des Herzens ist es aber z.B. gut, es hängt auch immer mit der Figur zusammen, aus deren Perspektive erzählt wird).
Größter Nervfaktor: Nenne eine Sache, die dich an den Büchern dieses Genres oft nervt
Es geht sehr oft um einen weißen, heterosexuellen, männlichen Protagonisten, der meist einen männlichen Mentor findet und sich dann über romantische Abenteuer (mit stereotyp hübschen, passiven Mädchen), Rückschläge beruflicher Art usw. entwickelt. Etwas mehr Diversität wäre gut. Dazu eine Anmerkung: Oft sind es die Romane, die man nicht sofort als Coming-of-Age-Geschichte erkennen kann, die weniger klischeebehaftet sind. Ein Beispiel dafür wäre Ian McEwans Atonement, das zunächst mehr die Stimmung und den Plot eines Krimis entwickelt.
Nenne Autoren und Reihen, die automatisch auf deiner „Muss ich kaufen“ Liste stehen
Gleiches Problem wie bei der Frage mit den Hypes ? Aber ich kaufe mir natürlich den nächsten Roman von Ms. Tartt, wann er auch erscheinen möge, und auch Elena Ferrante und Michela Murgia schreiben gute Entwicklungsgeschichten, in denen mal Frauen zur Abwechslung die Hauptrollen einnehmen.
An welche Orte, die in den Büchern deines Lieblingsgenre vorkommen, würdest du gerne reisen und welche Charaktere würdest du gerne treffen?
Ich würde unheimlich gerne das ehrwürdige, ehefeuüberwucherte Hampden College sowie das Landhaus von Francis Abernathy aus The Secret History kennen lernen. Ich würde gerne mit Maik Klingendorf und „Tschick“ im alten Lada herumfahren oder durch das Wien des Fin-de-Siècle mit Stefan Zweigs Figuren spazieren.
Was würdest du gerne öfter in Büchern deines Lieblingsgenre sehen?
Mehr weibliche Coming-of-Age-Geschichten, mehr weibliche Mentorenfiguren, mehr Abweichungen vom normativen Verständnis von Sexualität und Geschlechterzugehörigkeit.
The Secret History ist ein gutes Beispiel für wenig klischeehaftes Erzählen von Entwicklungsgeschichten. Tartt stellt z.B. die Sexualität ihrer Figuren als fließend dar, der Protagonist fühlt sich genauso von einem Kommilitonen angezogen wie von dem Mädchen, für das er “eigentlich” schwärmt. Ähnliches passiert beim Goldfinch, wo die Freundschaftsbeziehung zwischen zwei Jungen ab und zu eine erotische Färbung annimmt.
Wenn ihr noch Tipps habt, gerne her damit.
Empfehle drei Bücher deines Genres
Stephen Frys The Liar (stark autobiographisch gefärbt, daher geht es auch um einen schwulen Jungen im englischen Elite-Internat), Joey Goebels Torture the Artist (eine Art Satire auf den Popmusikbetrieb und eine bittersüße Geschichte um Freundschaft und Verrat), Siegfried Lenz: Deutschstunde (ein ziemlicher Brocken, erzählt den Emanzipationsprozess eines Jungen von seinem Nazi-Vater, spielt in den 50ern und, in Rückblicken, 1945 kurz vor Kriegsende).
Weitere tolle Beiträge zum #GenreTag:
Erst Donna Tartt und jetzt Frys “Der Lügner” – unser Geschmack scheint ja wirklich sehr ähnlich zu sein (obwohl ich denke, dass Frys Protagonist bi ist, nicht schwul). 😀 Ein echt schöner Artikel und bei der Bitte nach mehr Coming-of-Age-Geschichten mit weiblichen Figuren schließe ich mich unbedingt an. lG, Kat
Danke, Kat!
Haha, nicht zu glauben. Ok, bei mir ist die Lektüre vom “Lügner” schon ein paar Jahre her. Ich liebe Stephen Fry einfach sehr, als Schauspieler, als Redner, als Schriftsteller, alles.
Ich auch! Seine Romane sind aber eher hit or miss bei mir, “The Stars’ Tennis Balls” habe ich letztens abgebrochen, aber der “Lügner” ist ein Lieblingsbuch…. Ich mochte ihn aber auch zum Beispiel sehr als Moderator von QI, obwohl Sandi Toksvig auch großartig ist. Und ich kann nicht abwarten, endlich “Mythos”zu lesen.
Oh nein, The Stars’ Tennisballs fand ich sehr süß, das ist allerdings auch schon ein paar Jahre her bei mir, das ich das gelesen habe, vielleicht wäre es mir jetzt zu “pubertär”.
“Mythos” hat sich mein Freund gekauft und immer, wenn er darin liest, höre ich ihn kichern, muss also witzig sein. Das werde ich mir dann demnächst auch unter den Nagel reißen.