Eigentlich möchte ich dieses Buch schnell wieder vergessen und habe dennoch zu viel Gesprächsbedürfnis, um es unter den Teppich zu kehren. Dies ist also meine Besprechung zu Suzanne Collins‘ Sunrise on the Reaping (Die Tribute von Panem L: Der Tag bricht an). Ich bemühe mich, so wenig wie möglich zu spoilern.
Wie ihr alle wisst, bin ich ein riesiger Fan der Originaltrilogie und mochte auch das erste Prequel, The Ballad of Songbirds and Snakes, trotz ein paar Mängeln sehr gerne. Der Grund war: Hier hatte Suzanne Collins trotz bekannter Schauplätze erzählerisch eine komplett neue Welt aufgemacht. Durch einen neuen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext erkundet The Ballad of Songbirds and Snakes das Worldbuilding noch einmal neu – inklusive neuer, interessanter Konflikte. Das kann man bei diesem Prequel meiner Meinung nach nur sehr bedingt behaupten.
Stattdessen erschien mir Sunrise on the Reaping von Anfang an sehr bemüht. Vor allem bemüht, Anspielungen zu den anderen Büchern des Universums zu platzieren. Das geht so weit, dass sich im ersten Teil des Romans eigentlich am laufenden Band die Figuren aus der Originaltrilogie die Klinke in die Hand geben. Mochte ich diese Cameo-Auftritte zu Beginn noch, fühlte es sich ziemlich bald übertrieben an, vor allem, weil ein Großteil dieser bereits bekannten Figuren keine weitere Funktion im Plot haben. Aber steigen wir in die Analyse der Figuren und der Erzählstruktur ein.
Der Mangel an Entwicklung bei Haymitchs Figur und seinen Beziehungen
Für mich wurden eigentlich alle Figuren im Roman zu wenig entwickelt, wodurch nur wenig Spannung aufkommen konnte. Vor allem im Mittelteil des Romans. Der 16-jährige Haymitch aus Sunrise on the Reaping bekommt zu wenig Persönlichkeit. Deutlich wird das zum Beispiel darin, dass seine Handlungsmotivationen oft wenig nachvollziehbar sind. Haymitch rebelliert mehrmals mehr oder weniger offensiv gegen Präsident Snow und die Spielemacher. Nicht einmal macht er sich im Roman allerdings Sorgen, ob sich das nicht negativ auswirken könnte auf seine Familie und seine Freundin zu Hause. Warum sollte Haymitch so leichtsinnig sein? Gerade wenn er zuvor gar nicht als besonders rebellische Figur aufgebaut wurde? Offen bleibt auch, warum Haymitch den Drahtziehern des Komplotts gegen die Spielemacher überhaupt über den Weg traut und warum er sich für ihre Zwecke sofort und ohne Gegenfragen einspannen lässt.
Schlecht aufgebaut war auch die gesamte Liebesgeschichte zwischen Haymitch und Lenore Dove. Die erzählerische Herausforderung ist hier natürlich, dass wir als Lesende Haymitchs „große Liebe“ nur in den ersten zwei, drei Kapiteln überhaupt zu sehen bekommen. Und selbst da muss die Vorgeschichte ihrer Beziehung kurz im Rückblick abgehandelt werden. Da bleibt keine Zeit, den Kern der Beziehung zu entwickeln, was Haymitch überhaupt an Lenore Dove interessant findet und umgekehrt. Lenore Dove ist ein reines Plot Device und das ist selten interessant zu lesen – vor allem, wenn aus ihrer Figur dann so viel Drama für den Protagonisten geschöpft werden soll, wie es hier bei Haymitch geschieht.
Lenore Dove als platte Kopie von Lucy Gray Baird
Lenore Dove kommt den Großteil von Sunrise on the Reaping nur in Haymitchs sehnsüchtigen Erinnerungen vor. Haymitch erzählt uns die ganze Zeit, wie groß seine Gefühle für sie sind, zu spüren bekommen wir sie aber kaum. (Daher empfand ich z.B. auch Lenore Doves dramatische Abschiedsgeste bei der Abfahrt von Haymitchs Zug nur irritierend. So als wollte mir das Buch die Verzweiflung in den Rachen stopfen, anstatt sie mich wirklich mitfühlen zu lassen.)
Lenore Doves Figur ist – relativ einfallslos, meiner Meinung nach – als Spiegelbild oder platter Abklatsch von Lucy Gray Baird angelegt, Snow’s „love interest“ und Nemesis aus dem ersten Prequel. Warum Lenore Dove unbedingt auch zu den Covey gehören musste, wird nicht klar. Das trägt wiederum dazu bei, dass wir vieles vom Wordbuilding rund um die Covey einfach noch einmal wiedergekäut bekommen, obwohl alle diese Details schon bekannt sind aus The Ballad of Songbirds and Snakes. Lenore Doves Figur wäre eine Chance gewesen, stattdessen eine neue Perspektive auf Distrikt 12 zu bekommen (wenn sie keine Covey gewesen wäre). Teilweise bekommen wir diesen neuen Einblick bei den anderen Tributen, z.B. über das Tribut Wyatt Callow, dessen Familie im Wettgeschäft tätig ist. Aber das sind kurze Randnotizen verglichen mit den vielen langen Passagen über die Covey in Sunrise on the Reaping, die keine neuen Informationen enthalten.
Haymitch und Katniss als Spiegelbilder – funktioniert das?
Vor allem der Mittelteil – wie die Tribute vorbereitet werden und dann die Spiele selbst – tritt erzählerisch sehr bekannte Pfade aus. Das erste große Problem ist hier natürlich, dass wir als Lesende in groben Zügen schon wissen, was während Haymitchs Spielen passiert. In Catching Fire / Gefährliche Liebe schauen sich Katniss und Peeta eine Zusammenfassung davon an. Daher ist es schwer, während der Erzählung von Haymitchs Spielen wirkliche Spannung aufkommen zu lassen, wenn wir schon wissen, dass der Komplott, der gerade geschmiedet wird, nicht fruchten wird.
Als Zweites fällt die große Ähnlichkeit des Spiele-Plots hier zu Katniss‘ Spielen im ersten Teil der Hunger-Games-Trilogie auf. Zwischenzeitlich fühlte es sich beim Lesen an, als hakte Haymitchs Plot alle Punkte ab, die Katniss auch schon erlebt hat. Teilweise erschien mir Haymitch sogar nur noch wie eine billige Kopie von Katniss.
Natürlich ist das Absicht. Haymitch und Katniss sollen als spiegelbildliche Figuren gezeigt werden. Beide kommen aus dem Saum, sorgen im jungen Teenageralter für ihre Familie, haben ein jüngeres Geschwisterkind. In Sunrise on the Reaping wird gezeigt, wie Haymitch beinahe zum Gesicht der Rebellion gegen das Kapitol hätte werden können – und wie das dann aber schiefgeht. Diese Figuren-Parallelen geraten in jedoch zu platt, die Ähnlichkeiten zum ersten Teil der Hunger Games sind zu plakativ (z.B. die Tatsache, dass auch Haymitch sich in der Arena mit einem jüngeren Tribut aus Distrikt 12 zusammen tut und beim Tod dieses Tributs zusehen muss).
Haymitch ist nur noch Märtyrer, keine voll ausgeformte Figur
Aus der Gleichsetzung mit Katniss‘ Figur hätte eine interessante Erzählung werden können. Suzanne Collins ist jedoch dabei stehen geblieben, Haymitch als den absoluten Märtyrer der ganzen Buchreihe zu erzählen.
Denn was bleibt denn von Haymitch übrig, wenn er als Über-Katniss, als noch tragischeres Tribut, mit noch mehr Trauma und noch mehr Schwächen gezeigt wird? Raum für Entwicklung bleibt da nicht, und auch die Spannung lässt so zu wünschen übrig.
Ja, Haymitch ist wahrscheinlich die gebeuteltste Figur aus Distrikt 12. Mit 16 als Tribut auserwählt, gewinnt er zwar, aber verliert seine Familie und seine Freundin. Katniss und Peeta erleben ihn 24 Jahre später als menschliches Wrack mit Alkoholabhängigkeit und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Gleichzeitig versucht er alles, um nach vielen Rückschlägen endlich einmal diesen Tributen, Katniss und Peeta, zum Überleben zu verhelfen. Genau aus letzterer Motivation hätte Suzanne Collins etwas Interessantes machen können. Wie hat Haymitch z.B. seine ersten Spiele als Mentor erlebt? War er von Anfang an resigniert und hat nie versucht, seinen Tributen zu helfen, sie für Sponsoren interessant zu machen beispielsweise? Wie ist sein „Untergang“ in den Alkoholismus vonstatten gegangen?
Sunrise on the Reaping wärmt aber nur auf, was wir bereits über die Figur wissen, und schmückt die Ereignisse etwas aus. Interessanter wäre meiner Meinung doch, neue Erkenntnisse über Haymitch zu haben. Ich hätte mir da etwas mehr Kreativität und neue Einblicke auf Haymitchs Figur gewünscht, anstatt einfach nur das auserzählt zu bekommen, was wir schon über ihn als Figur aus der Originaltrilogie wissen. Märtyrertum reicht einfach nicht.
Diese Konflikte hätte Suzanne Collins für ein gelungenes Prequel erzählen sollen
Themen wie Stärke und Schwäche, Eigennutz und Selbstlosigkeit werden in der originalen Trilogie schon gut erkundet. Spannend ist doch, wie Katniss und ihr Mentor Haymitch dort zwar wie Spiegelbilder angelegt sind, Katniss jedoch im Laufe der Erzählung klar als die Figur mit der stärkeren Willenskraft gezeigt wird. Obwohl Haymitch als der Ältere eigentlich viel abgebrühter und zynischer wirkt. Von einem Prequel mit Haymitch als Hauptfigur hätte ich mir gewünscht, nicht nur den Ursprung seines Unglücks zu sehen (der ja hinlänglich bekannt ist), sondern mehr darüber zu erfahren, wie er damit umgeht. Wie geht es nach den Spielen für ihn weiter? Welche Intrigen erlebt er im Kapitol als Mentor, welche Freundschaften schließt er und warum? (In der Originaltrilogie erleben wir ja, dass er mit vielen seiner Mentoren-Kolleg*innen ein vertrautes Verhältnis hat.) Welches Leben führt er nach den Spielen in Distrikt 12? All das wird lediglich auf den letzten 15 Seiten in Sunrise on the Reaping angerissen. Das war mir einfach zu wenig.
Meiner Meinung nach hätte das Buch auch eindeutig von Zeitsprüngen zwischen dem Teenager-Haymitch während der Spiele und einem erwachseneren Haymitch als Mentor profitiert. Auch eine zweite Erzählperspektive (aus dem Kapitol oder aus einem anderen Distrikt) hätten die mechanische Erzählweise aufgelockert. Vor der Veröffentlichung von Sunrise on the Reaping hatten viele Fans ja spekuliert, ob wohl Effie Trinket in diesem Roman eine eigene PoV bekommt. Das wäre ein großer Pluspunkt für den Roman gewesen, weil Effies Perspektive uns von Distrikt 12 weggeführt hätte. Zu diesem weiß Suzanne Collins ja anscheinend nichts Interessantes mehr zu erzählen. (Die Außenseiter-Perspektive von Coriolanus Snow auf den Distrikt, wie sie in The Ballad of Songbirds and Snakes vorkommt, war da im Gegensatz zu Haymitch und Lenore Dove viel spannender!) Ehrlich gesagt hing mir Distrikt 12 am Ende von Sunrise on the Reaping gründlich zu den Ohren hinaus.
Wo Sunrise on the Reaping gute Hunger-Games-Unterhaltung geliefert hat
Trotz meiner Kritikpunkte hat Sunrise on the Reaping einige gelungene Szenen nach alter Hunger-Games-Manier zu bieten. Das sind vor allem alle Szenen mit Haymitchs Mittribut Maysilee Donner, die interessanteste neue Figur in diesem fünften Hunger-Games-Teil. Maysilee stammt aus dem feineren Teil von Distrikt 12. Ihre Unsicherheit und Verletzlichkeit versteckt sie hinter einer Fassade aus Arroganz. Dabei besitzt sie auch echten Heldenmut, denn sie hat für das Kapitol nur Verachtung übrig und bietet seinen Vertretern mehrmals die Stirn. Allen voran der grausamen Betreuerin der Distrikt-12-Tribute, Drusilla Sickle.
Haymitch findet sie zunächst unerträglich, doch die beiden raufen sich im Laufe der Spiele zusammen. Die Figurenbeziehung dieser beiden Charaktere wurde aber ebenfalls kaum zufriedenstellend mit Leben gefüllt. Da wäre noch erheblich mehr Raum für Entwicklung gewesen. Ihre enge Freundschaft gegen Ende des Romans erscheint dann auch relativ unmotiviert und zu plötzlich.
Auch die Integration von Plutarch Heavensbee, dem späteren Spielemacher in Katniss‘ Jubel-Jubiläum, sorgte für viele gute Schlagabtausche zwischen Haymitch und ihm. Auch hier wäre aber noch Luft nach oben gewesen, deren Figurenbeziehung besser auszubauen. Vor allem mangelt es der Figur des Plutarch an Entwicklung. Warum hat er überhaupt diese Kehrtwende eingeschlagen, aus welchem Grund rebelliert er heimlich gegen Snows Régime? Bei seiner Figur hätte sich ebenfalls eine eigene Erzählperspektive angeboten, um seine Motivationen klarer zu machen. Davon hätte der Roman sicher profitiert.
Sunrise on the Reaping wollte hier etwas zu viel, führte zu viele neue Figuren ein, sodass es dem Roman schwer fiel, einen Konflikt überhaupt tiefergehend auszubauen.
Für Gänsehautmomente sorgte ein Wiedersehen mit Präsident Snow sowie die Erinnerung an die kalte Brutalität der Spiele. Hier gibt es einen schön ausgearbeiteten Kontrast zu Katniss‘ und Peetas Spielen. Während bei den 74. Spielen die Entertainment-Fassade perfekt und die Gehirnwäsche bei den Kapitolbewohnern wie Effie abgeschlossen ist, präsentieren sich die 50. Hungerspiele noch deutlich amateurhafter. Sie sind noch in ihrer Findungsphase. Doch kommt hier, so suggeriert der Roman, die perfekte Propaganda des Kapitols zum ersten Mal voll zum Tragen.
(Aber auch hier stellt sich der Roman das nächste Bein: Wenn doch bereits 24 Jahre vor Katniss‘ und Peetas Spielen es kein Problem war, die Aufzeichnungen der Spiele live zu manipulieren, warum wird dann Katniss‘ und Peetas Rebellion mit ihrem angedrohten Selbstmord vor laufender Kamera überhaupt zum Problem im ersten Teil der Hunger Games? Habe ich etwas falsch verstanden oder baut sich Suzanne Collins da ein schönes Plot Hole auf?)
Wie lautet mein Fazit? Lohnt sich Sunrise on the Reaping?
Sunrise on the Reaping ist zu bemüht. Anstatt mit neuen Ideen für sich selbst zu stehen und nur ein paar subtile Verbindungen zur Original-Hunger-Games-Trilogie zu setzen, versucht dieses Buch in beinahe jedem Kapitel, mit aller Gewalt Anspielungen zum Rest des Kanons zu verstecken. Ich habe nichts gegen Fan Service, wenn er clever gemacht ist und nicht „mit der Tür ins Haus fällt“. Hier war er jedoch zu plump eingesetzt. Auch die altbekannte Formel – „Ernte – Training – Interviews – Spiele“ – vermag die Romanhandlung nicht mehr allein zu tragen. Mehr Kreativität in der Erzählweise hätte Sunrise on the Reaping interessanter gemacht: Zum Beispiel durch die zusätzlichen Erzählperspektiven von anderen Figuren wie Effie oder Plutarch. Oder durch Zeitsprünge zwischen einem 25-jährigen Haymitch als Mentor im Kapitol und einem 16-jährigen Haymitch und seinen Erlebnissen bei den Spielen. Für mich bleibt vor allem der etwas schale Nachgeschmack von verschenktem Potenzial zurück.