„Die erste halbe Stunde im Paradies“ von Janine Adomeit: Rezension

„People say that love is rare. I am not so sure. What really is rare is something even more desirable. Understanding.“ (Matt Haig, The Life Impossible)

Ich schätze Bücher und allgemein erzählende Medien dafür, dass sie mich unterhalten, mich bilden oder mir intellektuelle Anregung geben. Wenn ein Buch es aber schafft, dir das Gefühl zu geben: „Ich verstehe dich“, dann weißt du, dass du etwas Wichtiges und Kostbares vor dir hast. Genau so ein Buch ist Die erste halbe Stunde im Paradies von Janine Adomeit für mich.

Das Buchcover von "Die erste halbe Stunde im Paradies" auf gelbem Grund
©Arche Verlag

Darum geht’s

Im Roman geht es um Pharmareferentin Anne, deren Geschichte der Roman auf zwei Ebenen erzählt. Es gibt die Gegenwartsebene sowie Rückblicke in Annes Kindheit.

Die erwachsene Anne ist Anfang dreißig und steht kurz vor dem Durchbruch: Raus aus dem nervigen Außendienst, rein in den prestigeträchtigeren Innendienst, ein neues Schmerzmittel für Schwerkranke zu vermarkten – und zwar Fentanyl in Form eines Schmerzpflasters. Anne ist unabhängig, zielstrebig und im Reinen mit sich – so scheint es jedenfalls. Persönliche Verbindungen hat sie so gut wie keine, Partnerschaft oder Ehe will sie sowieso nicht: „Keine Beziehung bedeutet auch kein schwarzes Loch, das Lebensenergie frisst und Verpflichtungen und Konflikte am laufenden Band produziert.“ (S. 22) Warum Anne diese Haltung vertritt, wird im Laufe des Romans deutlich.

Anne ist zu Beginn der Geschichte auf einer Weiterbildung, zu der sie von ihrem Konzern verdonnert wurde. Dort soll sie auch einen Vortrag über opioidbasierte Schmerzmittel halten. Genau zu diesem ungünstigen Zeitpunkt wird sie von ihrem älteren Bruder Kai kontaktiert. Zwischen ihnen herrscht aber seit Jahren Funkstille. Sie soll ihn aus einer Entzugsanstalt abholen und übers Wochenende bei sich aufnehmen.

Dadurch brechen all die Konflikte aus ihrer Vergangenheit, die Anne schön von sich abgekapselt hatte, wieder in ihr geordnetes Leben ein.

Spannend wie ein Krimi

Als begeisterte Krimileserin hab ich den Spannungsaufbau bei „Die erste halbe Stunde im Paradies“ wirklich gern gemocht. Denn ein Zeitsprung verhindert, dass wir wissen, warum die Geschwister Anne und Kai entfremdet sind.

Wir bekommen im Prolog nämlich eine noch recht idyllische Szene aus der Sicht der zehnjährigen Anne gezeigt. Sie fährt mit ihrem Bruder Kai, ca. sieben Jahre älter als sie, und ihrer chronisch kranken Mutter nach Italien in den Silvesterurlaub. Die Stimmung ist harmonisch, wenn auch Melancholie wie eine Unterströmung unter der Szene liegt. Die Mutter überschätzt sich ständig und ist schlecht ausgerüstet für die Reise. Die halbwüchsigen Kinder müssen den Alltag für sie manövrieren, auf sie aufpassen. Trotzdem wird der große Familienzusammenhalt deutlich. Die drei können sich aufeinander verlassen. Besonders Annes Bewunderung und Hingabe für den großen Bruder leuchten nur so aus ihrer kindlichen Perspektive hervor.

Die erwachsene Anne hat seit Jahren jedoch nichts mehr mit ihrem Bruder zu tun. Der Spannungssog entwickelt sich über diese Wissenslücke des Lesers – Was ist in der Zwischenzeit passiert? Diese Frage wird nach und nach in Rückblenden zu Annes Kindheit beantwortet.

Wobei der Roman an diesen Stellen die kindliche Perspektive der kleinen Anne gut herausarbeitet und damit erneut Suspense aufbaut: Die neun-, zehn- oder elfjährige Anne kann nicht umreißen, was die schwere Krankheit der Mutter – es handelt sich wahrscheinlich um MS – für die Familie bedeutet. Sie entwickelt Strategien, mit denen sie versucht, Kontrolle über die Situation zu behalten, z.B. indem sie alle Symptome der Mutter und deren tägliche Veränderungen in einem Schulheft notiert. Gleichzeitig werden die täglichen Verantwortlichkeiten für die Kinder immer zahlreicher. Irgendwann kann sich die Mutter nicht mehr alleine waschen oder anziehen. Trotzdem geht Anne immer davon aus, dass es der Mutter bald wieder besser gehen wird, dass der Alltag wieder normal werden wird. Wir als erwachsene Leser wissen, dass das eine unrealistische Wunschvorstellung ist, und sehen in diesen Erzählausschnitten auch, wie der ältere Bruder versucht, das ganze Ausmaß der ernsten Realität von der kleinen Schwester fernzuhalten. Er setzt sich z.B. mit der Mutter über ihre möglichen Therapiemöglichkeiten auseinander und begleitet sie zu Arztbesuchen.

So stehen sich immer der kindliche Optimismus der kleinen Anne und unsere erwachsene Perspektive (z.T. verkörpert in der des Bruders) gegenüber, die weiß, dass der Kampf der kindlichen Protagonistin aussichtslos ist.

Annes Entwicklung versinnbildlicht als Panzer

Diese zwei Figuren erscheinen zuerst unvereinbar: Die kindliche Anne und die erwachsene. (Schön verdeutlicht der Roman das auch in zwei klar zu unterscheidenden Erzähltonalitäten.) Dennoch sehen wir die subtilen Veränderungen, die die Pflegeverantwortung bei der kindlichen Heldin auslösen. „So tun, als wäre alles in Ordnung, entpuppte sich allmählich als die schwerste Aufgabe von allen.“ (S. 202) Die schiere Überforderung der kindlichen Heldin resultiert in einem Panzer, „dick und stark wie die Platten eines Gürteltiers“ (S. 250), den die erwachsene Heldin um sich herum aufbaut, um nichts mehr so stark fühlen zu müssen wie damals die Hilflosigkeit ihres kindlichen Ichs. Der Roman zeigt in vielen behutsamen kleinen Schritten, die trotzdem brutal einschneiden beim Lesen, wie aus diesem Kind diese Erwachsene werden konnte. Die dreißigjährige Anne hat ihre Emotionen im Griff, bis die Vergangenheit wieder anklopft in Form ihres entfremdeten Bruders Kai.

Die Tragik der Mutterfigur in Die erste halbe Stunde im Paradies

Hoch anrechnen möchte ich Janine Adomeit, dass sie die Figur der kranken Mutter nicht zu einer Karikatur hat verkommen lassen. Die Mutter hat eine Vergangenheit, hat eine Agenda, hat nachvollziehbare Motivationen, aber auch Widersprüche. Sie ist ausgebildete Sängerin, daher bestimmt auch die Musik und die Begeisterung für die klassische Oper das Familienleben. Gemeinsames Singen ist Therapie und Familiensprache für Mutter und Kinder.

Treibender Konflikt im Text ist der Wunsch der Mutter, dass sie mit ihren beiden Kindern trotz ihrer fortschreitenden Krankheit weiterhin zusammenbleiben möchte. Denn sie ist alleinerziehend und hat Angst, dass ihr das Sorgerecht für die Kinder, besonders für die kleine Anne, entzogen wird, wenn ihre Krankheit öffentlich bekannt wird. Daher lehnt sie es auch soweit es geht ab, sich Hilfe von außen zu suchen.

Tragisch ist, wie die Mutter im Verlauf der Geschichte um ihre Selbständigkeit kämpft. Zum Beispiel will sie es zuerst nicht zulassen, dass ihr ihre Tochter den Körper wäscht, sondern wäscht sich so lange es geht selbst, während Anne sie stützt und so verhindert, dass sie in der Dusche das Gleichgewicht verliert. Wer könnte ihr diese Verhaltensweise verdenken?

Brutaler Loyalitätskonflikt: Wie entscheidet sich Anne?

Welchen Konflikt die jahrelange Parentifizierung in Anne auslöst, spitzt der Roman in einer schönen Erkenntnis gegen Ende des Romans zu: Es ist die „unerträgliche Gleichzeitigkeit unvereinbarer Gefühle“ (S. 250). Zum Beispiel Wut und Scham, Wut über die ungerechte Verantwortung in einem viel zu jungen Alter, und Scham über die eigene Hilflosigkeit.

Diesen Konflikt will Anne als erwachsene Heldin durch Rationalität und Wissenschaftsglauben gewinnen. Trotz kritischer Meinungen in ihrem Umfeld bleibt Anne bei ihrem Optimismus: Fentanyl ist das beste Schmerzmittel für unheilbar Kranke, was kann also gefährlich daran sein. Sie denkt, sie tut den Kranken, tut der Wissenschaft einen Gefallen. Die suchtauslösende Wirkung des Medikaments und seine Folgen für die Patienten unterschätzt sie dabei. Sie denkt, sie kann den Schmerz der Kranken und damit auch ihren eigenen Schmerz heilen. Sie will mit Wissenschaftsglauben den irrationalen Loyalitätskonflikt in ihrem Inneren besiegen.

Ich verrate nicht, wie das Treffen von Anne und Kai verläuft und wie Anne sich am Ende entwickeln wird. Als jemand, der selber Erfahrung mit Parentifizierung gemacht hat, kann ich nur sagen, dass dieser Roman sowohl mitreißend als auch heilsam für mich war. Bitte mehr davon!

Janine Adomeit: Die erste halbe Stunde im Paradies, erschienen bei Arche im Februar 2025.

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