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Holmes abseits von „Sherlock“ – Empfehlungen für Hörspiele, Hörbücher und Graphic Novels

Willkommen zu einem wilden Sammelsurium an sherlockianischen Empfehlungen! Diese Woche bei den #bakerstreetblogs präsentieren Fiktion Fetzt und Ant1heldin euch die verschiedensten Sherlock-Holmes-Medien. Ich konzentriere mich auf Hörspiele und Graphic Novels, während Karo euch Spiele und Apps rund um den consulting detective vorstellt. Ihr habt BBC‘s Sherlock schon lange durchgesuchtet und braucht neuen Stoff? Dann seid ihr hier richtig.

sherlock holmes hörspiel und graphic novel

Der große Vorzug von Arthur Conan Doyles Meisterdetektiv ist seine Glaubwürdigkeit. Das ist vor allem dem Erzähler Dr. Watson zu verdanken. Wir kennen Holmes‘ Arbeitsweise, seine tägliche Routine, seine Marotten, die ihn menschlich machen. Kein Wunder, dass viele Zeitgenossen von Arthur Conan Doyle glaubten, den berühmten Sherlock Holmes gebe es wirklich (und in Volkstrauer verfielen, als der Autor seine Schöpfung den Heldentod sterben ließ, nur vorübergehend, zum Glück). Dazu kam sein bald ikonisches Erscheinungsbild, das durch die Illustrationen im Strand Magazine und in den frühen Theateradaptionen so festgeschrieben wurde. Schauspieler William Gillette präsentierte sich ab 1899 als Holmes mit Deerstalker-Hut und Inverness-Mantel (der Hut wurde nur in einer Originalgeschichte erwähnt) auf der Bühne. Dieser Aufzug setzte sich durch. Ein Deerstalker-Hut bedeutet heute so gut wie immer eine Anspielung auf Sherlock Holmes.

Sherlock Holmes „springt“ der Leserschaft so plastisch von den Buchseiten entgegen, dass er sich für die Übertragung in jede andere Mediengattung einfach hervorragend eignet. Der anhaltende Hype um seine Figur erlaubte es dem Meisterdetektiv sowieso nicht, sich in den Ruhestand zu begeben. Weitere Adaptionen mussten her. Dabei darf man nicht nur an Kinoverfilmungen denken. Schon ganz früh (ab den 1930ern) eroberte der berühmte Privatdetektiv in Hörspielen auch das Radio. So stand das „Ohrenkino“ dem klassischen Kino noch nie sonderlich nach, was sherlockianische Medien angeht, das beweist schon die Fülle an Sherlock-Holmes-Hörspielen auf den gängigen Streamingdiensten heute. Ich selbst habe eine Zeit lang Sherlock Holmes ausschließlich über Hörspiele konsumiert, dazu gleich mehr.

Beim Comic und der Graphic Novel hat Sherlock Holmes vergleichsweise noch Nachholbedarf. Es gab zwar hier und da immer mal wieder eine Bearbeitung, aber so richtig in Gang kam die Produktion von Sherlock-Holmes-Comics erst seit den 90er Jahren. Durch Zufall habe ich auf der Leipziger Buchmesse eine tolle Graphic-Novel-Reihe entdeckt, die ich euch heute vorstellen möchte.

Sherlocks mediales Nachleben: Hörspiele!

Was früher vielleicht mehr als Kinder-Medium (siehe „Die 3 ???“) „verpönt“ war, gehört spätestens seit dem Erfolg von Podcasts (die ja häufig ähnlich wie Hörspiele in Szene gesetzt sind) zur Mainstream-Unterhaltung. Hörspiele sind in! Sherlock Holmes und seine Ära sind so ikonisch, dass sie auch in einem Audiodrama mit wenigen Effekten wiederzubeleben sind. Ein Feuerknistern im Kamin, ein „Elementar, mein lieber Watson“, und schon sind wir mittendrin im Geschehen. Aufwendiger wird es natürlich, wenn das Audiodrama die Charaktere in ein modernes Setting versetzt. Dazu gleich mehr!

Als regelrecht Sherlock-Holmes-Hörspiel-Süchtige – ich nutze sie vor allem beim Pendeln oder bei eintönigen Tätigkeiten wie Kochen, ich mag aber einfach auch das Kopfkino sehr gerne – habe ich schon Einiges durchgehört und stelle euch hier gesammelt ein paar Favoriten vor.

Die Maritim-Hörspiele für gemütliche Unterhaltung in der Baker Street

Genauso, wie es mal gruselige und mal ganz geruhsame Sherlock-Holmes-Geschichten im Original-Kanon gibt, setzen die verschiedenen Hörspiel-Hersteller unterschiedliche Schwerpunkte bei ihren Holmes-Adaptionen. Mal sind sie mehr für ein jugendliches Publikum umgesetzt und dementsprechend weniger aufregend, mal sind sie für Erwachsene und dann auch komplexer erzählt.

Ewig in guter Erinnerung behalten werde ich die Sherlock-Holmes-Hörspiele vom Maritim-Verlag („Die Originale“) von 2004-2011. Nicht, weil sie etwas bahnbrechend Neues ausprobieren würden. Im Gegenteil, diese Vertonung der 60 Originalgeschichten von Doyle kommt eher ein bisschen angestaubt daher, aber ich schätze sie gerade für ihre Gemütlichkeit.

Die gesetzte Atmosphäre kommt vor allem über den stimmlich etwas großvaterhaft anmutenden Peter Gröger als Dr. Watson und über das nette Geplänkel zwischen ihm und seinem Pendant Christian Rode als Sherlock Holmes zustande. Holmes und Watson streiten sich in dieser Hörspielfassung wie ein altes Ehepaar. Ganz klar: hier geht’s weniger um Spannung als darum, die gewohnte gemütliche Atmosphäre zu genießen. Der Hörer oder die Hörerin bekommt alles, was er von einer nostalgischen Hörspielfassung der Holmes-Geschichten erwartet: knisterndes Kaminfeuer, ratternde Dampflokomotiven, dramatische Streicher, die den Ermittlungsprozess von Holmes untermalen, und eben immer wieder ein paar nette Witzeleien zwischen dem berühmten Ermittlerduo. Insgesamt sind die Maritim-Hörspiele wohl eher für ein jüngeres Publikum verfasst. Sherlock Holmes erklärt seine einzelnen Deduktionen dem übertrieben begriffsstutzigen Watson jedes Mal sehr ausführlich. Da sind die literarischen Vorlagen schon etwas rasanter erzählt! ?

sherlock holmes maritim hörspiele

© Maritim

Die Vorlagen sind hier an ein paar Stellen übrigens leicht abgeändert, was den Spaß aber nicht schmälert. Im Gegenteil, manchmal werden sogar Sexismen aus den Originalen ein bisschen abgedämpft. Ich habe die Hörspiele vor Jahren immer wieder durchgehört, wenn ich stressige Phasen in der Uni hatte, um mich nervlich ein bisschen zu erholen. Fazit: Nostalgie pur, eignet sich für Holmes-Neulinge und für alte Hasen.

Das „Dreamteam“ Rode und Gröger kehrte zurück

Rode und Gröger waren als Holmes und Watson so beliebt bei Hörspiel-Fans (es gab z.B. unzählige Raubkopien der Maritim-Hörspiele auf Youtube, das war noch vor der Spotify-Ära), dass sie eine zweite Reihe aufnahmen, nämlich Sherlock Holmes – Die neuen Fälle bei Titania (heute gibt es beide Reihen auf den einschlägigen Streamingdiensten). Die Qualität dieser Pastiche-Geschichten ist gemischt. Etwa ein Drittel davon gibt richtig gute Rätselfälle ab und beschäftigen sich auch tiefer mit dem viktorianischen Zeitgeist. Dann geht es um historische Konflikte wie die Kriege des Empires mit seinen Kolonialstaaten, um das damalige Geschlechterbild usw. In einigen Geschichten kommt die bemühte Gruselstimmung aber leider sehr aufgesetzt und albern daher. Fazit: Gut für leichte Unterhaltung, um sich beim Pendeln oder bei der Hausarbeit abzulenken, aber nicht mehr. Meine Lieblingsfälle sind hier „Die gelbe und die blaue Flamme“ (die kann tatsächlich mit den Original-Fällen mithalten!), „Der ehrlose Löwe“, „Die Prinzen im Tower“ und „Der siebte Monat“.

sherlock holmes hörspiele neue fälle

© Titania

Zwei weitere Hörspiel- bzw. Hörbuchtipps am Rande sind die Reihen Sherlock Holmes – Die neuen Abenteuer von Ignatius Audiobooks sowie die Sherlock Holmes Chronicles von Winterzeit Audiobooks. Die Neuen Abenteuer (Hörbuchreihe) sind von Christoph Hackenberg eingelesen, dessen ruhige Stimme mir sehr gut gefällt. Die neu erfundenen Fälle zeichnen ein historisch authentisches Bild des viktorianischen London, wenn die Fallgeschichten an sich auch nicht immer großartig überraschen. Holmes und Watson ermitteln z.B. in den Kew Gardens, im Britischen Museum oder im japanischen Konsulat. Die Sherlock Holmes Chronicles (Hörspielreihe) sind ein bisschen melodramatisch, machen aber trotzdem Spaß. Sie übernehmen wild verschiedene Elemente aus der (Sherlock Holmes-)Popkultur und vermischen sie mit den Holmes-Motiven, in einer Folge geht es z.B. um die Zeitmaschine aus The Time Machine von H.G. Wells.

sherlock holmes chronicles cover

© Winterzeit Audiobooks

Jetzt aber zu einem echten Hörspiel-Juwel!

Eine echte Entdeckung: Die Hörspiel-Reihe Neues aus der Baker Street vom Audio-Verlag

Die moderne Hörspiel-Adaption von Sherlock Holmes mit dem etwas nichtssagenden Namen Sherlock und Watson. Neues aus der Baker Street spielt wie die BBC-Serie Sherlock im heutigen London, ist aber eine deutsche Produktion mit deutschen Sprechern. Ich bin zufällig darauf gestoßen und war zuerst skeptisch (können deutsche Sprecher die britische Coolness rüberbringen, wird das nicht vielleicht albern?). Aber weit gefehlt: Besonders Johann von Bülow als Sherlock Holmes und Stefan Kaminski als James Moriarty brillieren einfach in ihren Rollen! Florian Lukas als John Watson gibt einen guten Erzähler ab, der erfrischend und überhaupt nicht betulich rüberkommt.

Ganz deutlich hat sich diese Hörspielreihe die BBC-Serie Sherlock zum Vorbild genommen. Das ist aber kein Negativkriterium, wenn die Umsetzung so toll gelungen ist. Diese Reihe ist wirklich Kino für die Ohren! Filmmusik und Soundeffekte schaffen eine perfekte Illusion, um gut in die rasanten Geschichten einzutauchen. Neues aus der Baker Street hat anderen Hörspielreihen aber vor allem voraus, dass die Dramaturgie es tatsächlich ermöglicht, in die Gedankenwelt von Holmes einzutauchen. Wir müssen uns als Zuhörer*innen nicht nur auf Watsons Perspektive beschränken. Holmes‘ pfeilschnelle Deduktionen werden z.B. in Dialog- und Soundcollagen dargestellt, wo von Bülows Stimme in schneller Abfolge übereinander geblendet wird. Das klingt ungefähr so: „Es befinden sich unterschiedliche Schuhabdrücke in dem Beet unter dem Fenster der Jungs. … Zwei deutlich zu unterscheidende Abriebspuren unter [undeutlich] … abgebrochene Zweige unter dem Fenster … es waren zwei Männer …“ (aus: Das Rätsel von Musgrave Abbey, Kapitel 4, Min 2:35)

neues aus der baker street hörspiel cover

Johann von Bülows Interpretation von Holmes

Johann von Bülow spielt seinen Sherlock, ähnlich wie Cumberbatch, als narzisstisch-arroganten Typen, der regelmäßig den Kick eines Kriminalfalls braucht. Seine süffisante Sprechweise und seine sarkastischen Antworten bilden das perfekt ab. Trotzdem bleibt er noch etwas zugänglicher und sympathischer als Cumberbatchs Sherlock. Er ist weniger rücksichtslos (auch wenn er mal 72 Stunden lang nicht mitkriegt, dass sein bester Freund John zweimal entführt wurde). Gerade im Umgang mit seinem Todfeind Moriarty, der ab Folge 3 in Person auftaucht, erschien er mir erfrischend selbstironisch. Sherlock ist zunächst von Moriartys Spielchen genervt und gibt bei der ersten Konfrontation zu, dass er seine Taktiken nicht gleich durchschaut hat.

Holmes und Moriarty: eine gruselige Hassliebe

Überhaupt gehört die Neuinterpretation der Beziehung Holmes-Moriarty zu den Highlights dieser Audiodrama-Reihe. Sie betont das spiegelbildliche Verhältnis zwischen den beiden Kontrahenten. Einer ist das Negativ des anderen. Moriarty behauptet sogar, dass er sich selbst allein für den Wettkampf mit Holmes „erschaffen“ hat. Er erklärt Sherlock bei ihrer ersten Begegnung: „Ich bin die Antwort auf all Ihre Fragen. Der ultimative Verbrecher für den unfehlbaren Ermittler. Sie machen mich erst möglich. Der consulting criminal für den consulting detective.“ (aus: Die Spur des Teufels, Kapitel 24, Min 2:40) Moriarty umgarnt Holmes förmlich, auf seine Spielchen einzugehen. Aus reiner Feindschaft in der literarischen Vorlage wird hier eine Art Hassliebe. Kaminski verleiht seinem Moriarty, dazu passend, eine halb gruselige, halb verführerische Persönlichkeit. So heißt der vorerst letzte Teil der Hörspielreihe mit Holmes (fingiertem) Tod auch nicht „Das letzte Problem“, wie die Originalgeschichte, sondern „Der letzte Tanz“.

Leider umgibt die Figur des James Moriarty hier ein Hauch der homophoben Trope des „bösen Schwulen“ (ähnlich wie beim James-Bond-Film Skyfall). Aber die lässt sich nur an einer Anspielung festmachen, die mutmaßliche Sexualität von Moriarty (und auch die von Holmes) spielt bei Neues aus der Baker Street weiter keine Rolle.

Wohl überlegte Modernisierung des alten Holmes-Stoffs

Ich predige es ja immer wieder: Je gründlicher und intelligenter sich eine Adaption von Sherlock Holmes mit den Originalgeschichten auseinandergesetzt hat, desto besser wird sie. Die Drehbücher von Neues aus der Baker Street gehen sehr überlegt mit den ursprünglichen Motiven von Arthur Conan Doyle um. In jeder der fünf Folgen wird mindestens einer der originalen Fälle aufgegriffen und für eine moderne Erzählung adaptiert. Für authentisches modernes Setting verweben die Geschichten die Original-Plots mit realen politischen Konflikten von heute. Ein einfaches Beispiel ist der Kriegsdienst von John Watson im modernen Nahost-Konflikt und seine daraus resultierende Posttraumatische Belastungsstörung. Aber die Geschichte Die Spur des Teufels greift z.B. auch die Ermordung des russischen Kreml-Kritikers Litwinenko 2006 in London auf. Litwinenko wurde damals in einer Londoner Sushi-Bar vom russischen Geheimdienst radioaktiv vergiftet und starb wenig später an der Strahlenkrankheit. Diesen und andere politisch brisante Konflikte wie die IRA-Anschläge in den 90ern greift die Hörspielreihe auf und verbindet sie zu spannenden Thriller-Handlungen mit Holmes und Watson im Mittelpunkt des Geschehens.

neues aus der baker street hörspiel

© Der Audio Verlag

Zu guter Letzt enthält Neues aus der Baker Street einige ziemlich witzige Anspielungen auf popkulturelle Phänomene und nimmt auch das Phänomen „Sherlock Holmes“ selbst auf die Schippe. John Watson hat z.B. das „The Game is on!“-Theme aus der BBC-Serie Sherlock als Klingelton auf dem Handy. Und auf Watsons Blog kommentiert immer ein Nutzer namens „Keyser Soze“ (wer den Film Die üblichen Verdächtigen kennt, weiß, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt). Fazit: Temporeiche Hörspieladaption der Sherlock-Holmes-Motive. Wer die Originalgeschichten alle schon kennt, wird von den Fall-Lösungen nicht immer ganz überrascht sein. Aber das macht die tolle Atmosphäre wieder wett. Einziger Nachteil: Es gibt erst fünf Folgen dieser Reihe!

Ein später Auftritt: Sherlock Holmes im Comic

Die Comic-Karriere von Sherlock Holmes ist, vor allem mit Blick auf sein Nachleben in Film und Fernsehen, vergleichsweise jung. Die großen amerikanischen Verlage wie Marvel und DC wollten kaum etwas mit dem englischen consulting detective zu tun haben. DC gab in den 70ern einen Holmes-Zweiteiler (eine Adaption der Geschichten „The Final Problem“ und „The Empty House“) heraus, das war aber auch schon alles. Warum dieses Desinteresse? Manche Künstler vermuten rückblickend, dass viele Verlage den Aufwand scheuten, das viktorianische Setting zu adaptieren. Ich vermute außerdem, dass dem durchschnittlichen Comicleser in den 50er, 60er Jahren, der Spider Man & Co. gewohnt war, das London des 19. Jahrhunderts etwas angestaubt vorkam und alle Adaptions-Versuche deshalb erfolglos blieben.

Zum Glück hatte Holmes dann ab den 1990er Jahren doch noch einen späten Auftritt bei verschiedenen internationalen Comicverlagen. Es gab z.B. die frankobelgische Comicserie im Verlag Lefrancq von 1990-2002. Die Künstler adaptierten hier Originalgeschichten aus dem Holmes-Kanon, aber auch so genannte „Lost Cases“ (was es damit auf sich hat, könnt ihr in meinem Artikel zu Sherlock-Holmes-Pastiches nachlesen) wie den der „Riesenratte von Sumatra“.

Ich selbst muss gestehen, dass ich eine Holmes-Puristin bin und von Adaptionen zurückschrecke, die den guten consulting detective in allzu abstruse Kontexte versetzen. Holmes im Kampf gegen die Zombie-Apokalypse interessiert mich einfach nicht so sehr. Graphic Novels, die den Detektiv in seinem ursprünglichen Umfeld, dem viktorianischen London, belassen, kann ich dafür umso mehr abgewinnen.

Aufwendig und düster: Die Graphic-Novel-Reihe Holmes (1854/† 1891?) vom Verlag Jacoby & Stuart

Diese Graphic-Novel-Bearbeitung ist im Original französischsprachig und stammt vom Autoren-Duo Luc Brunschwig (Text) und Cécil (Zeichnungen). Sie erscheint seit 2004, ist aber noch nicht abgeschlossen. Die Reihe nimmt innerhalb der üblichen Bearbeitungen von Arthur Conan Doyle eine Sonderstellung ein, weil Sherlock Holmes hier selbst nur in Rückblicken vorkommt (zumindest in den ersten drei veröffentlichten Bänden, die Reihe ist auf neun Bände angelegt). Holmes muss kein Fallrätsel lösen, er ist selbst das Rätsel.

Dr. Watson kehrt zu Beginn des ersten Bandes von den Reichenbachfällen zurück, zutiefst erschüttert vom (vermeintlichen) Tod seines Freundes, und versucht nun, mehr über die Feindschaft zwischen Holmes und Moriarty zu erfahren. Daraus entspinnt sich eine Spurensuche in Holmes‘ Familiengeschichte. Die Bilder im Comic sind in gedeckten dunklen Tönen gehalten und sollen wohl einen Schwarz-Weiß-Film nachahmen.

Mythos und Wahrheit

Dr. Watson beschäftigt sich in Teil 1 der Reihe, „Abschied von der Baker Street“, mit dem „Mythos Sherlock Holmes“. War der große Detektiv wirklich so, wie sein Biograph Dr. Watson ihn gerne gesehen hätte (und immer wieder beschrieb)?  Watson plagen nach dem Tod seines Freundes in den Reichenbachfällen naturgemäß Schuldgefühle.

Es kommt aber noch schlimmer: Auf den ersten Seiten der Graphic Novel werden Zweifel laut an Holmes‘ geistiger Gesundheit. Alles deutet darauf hin, dass es Professor Moriarty nie gegeben hat. Ein nicht unbegründeter Verdacht: In den Originalgeschichten bekommt Watson Moriarty nie selbst zu Gesicht. Jetzt wird eine neue Theorie aufgeworfen: Holmes, der absehen konnte, dass er sich aus seinen Wahnvorstellungen (ausgelöst durch seine Drogenexzesse) nicht mehr würde befreien können, soll sich in der Schweiz das Leben genommen haben. Das behauptet zumindest sein Bruder Mycroft.

Watson ist am Boden zerstört. In einer bedrückenden Traumsequenz spricht er mit dem schattenhaften Holmes, der ihm vorwirft, sich nur noch mit seinem fiktiven Doppelgänger (=mit seinen Veröffentlichungen über Holmes‘ Abenteuer) beschäftigt und seinen realen besten Freund im Stich gelassen zu haben. Dass Watson seinen Freund in seinen Geschichten stets hoffnungslos idealisiert, ist ein entscheidender Wesenszug seiner Kriminalprosa. Was, wenn Watson diese Heldenverehrung mit aller Macht aufrechterhalten wollte, um die Fehler seines realen Freundes nicht sehen zu müssen?

Das ist der düstere Ausgangspunkt der Graphic-Novel-Reihe. Der gute Doktor darf jedoch etwas später Hoffnung schöpfen, warum, will ich an dieser Stelle aber nicht verraten.

holmes graphic novel zeichnungen

Eine Reise in Holmes‘ Vergangenheit

Wer war Holmes wirklich? Um das heraus zu finden, reisen Watson und seine Frau Mary in Band 2, „Der Schatten des Zweifels“, nach Frankreich, woher die Vorfahren von Holmes‘ Mutter stammen. Holmes (1854/† 1891?) schiebt ab da immer wieder Rückblicke auf Holmes‘ Familiengeschichte zwischen die aktuellen Geschehnisse ein. Die Adaption orientiert sich dabei an der Sherlock-Holmes-„Biographie“ des Sherlockian William S. Baring-Gould von 1962. Darin bemühte sich Baring-Gould, eine zusammenhängende Biographie der fiktiven Figur Sherlock Holmes anzufertigen. Er lässt seiner Fantasie aber ziemlich freien Lauf und erfindet viele Hintergründe frei hinzu. So z.B. auch die Behauptung, James Moriarty sei der Hauslehrer des jugendlichen Sherlock gewesen, was sich in den Originalgeschichten einfach nicht belegen lässt, oder eben der französische Familienzweig der Holmeses.

In der Graphic Novel geht es nun z.B. um Holmes‘ Mutter, die im Krimkrieg als Krankenschwester gearbeitet hat (siehe Teil 3). Während Watson und seine Frau Nachforschungen im Ausland anstellen, recherchiert Wiggins, der inzwischen erwachsen gewordene Anführer der Baker Street Irregulars, im Londoner East End. So vermischen sich Lokalkolorit der 1890er mit historischen Rückblicken in die 1850er. Es geht um das soziale Elend in den Londoner Slums, um Medizingeschichte und sogar um die unterdrückte Stellung der Frau im Patriarchat.

Kleiner Kritikpunkt: Die Motiv-Fülle verdrängt den Protagonisten

Die Fragen, die die Graphic-Novel-Reihe aufwirft, sind für alle Sherlock-Fanatiker sehr interessant. Leider entfernt sich der Plot öfter mal zu weit von seinem eigentlichen Rätselgegenstand – Sherlock Holmes – und stellt Nebenhandlungsstränge wie eben die Familiengeschichte des Detektivs zu sehr in den Vordergrund. Der sprichwörtliche „rote Faden“ fehlt an manchen Stellen. Zudem werden immer wieder Andeutungen gestreut, die nicht erklärt werden, das wird hoffentlich in den folgenden Bänden nachgeholt.

sherlock holmes graphic novel cover

Der Zeichen- und Erzählstil von Holmes (1854/† 1891?)

Das Lesen einer Graphic Novel ist ein ganz anderes Unterhaltungs-Erlebnis als beim Film oder Roman. Passives Konsumieren ist weniger einfach möglich – man muss sich eigentlich jedes Bild erarbeiten (so kam es zumindest mir als ungeübter Comic-Leserin vor). Text und Bild sind getrennte Wahrnehmungsfilter. Man kann nicht nur auf eines davon achten, doppeltes Lesen ist oft notwendig: einmal fürs Textverständnis, und einmal, um die Bilder als zusätzliche Interpretationsebene noch einmal zu den jeweiligen Dialogstellen zu betrachten.

Bei dieser Holmes-Reihe war das ein ästhetischer Genuss der besonderen Art. Es wird durchgehend realistisch gezeichnet. Die Handlung, die 1891 spielt, ist in Grau- und Blautönen gehalten, die Rückblicke ins Jahr 1854 in Sepia. Sherlock Holmes, der immer nur in der Erinnerung von Dr. Watson auftaucht, ist undeutlich oder nur als Silhouette im Gegenlicht gezeichnet, ein toller Kunstgriff, um den mythischen Status von Holmes noch zu verstärken. Besonders gut gefallen hat mir die realistische Mimik der Gesichter. Fazit: Unbedingt lesenswert für alle Sherlockians! Für Holmes-Neulinge vielleicht etwas verwirrend, aber trotzdem ein ästhetischer Genuss. Interessant sind auch die Making-ofs am Ende von Teil 2 und Teil 3, die die Entstehung einzelner Szenen dokumentiert.

Die Sherlock-Holmes-Geschichten als Hörbuch – Die Definitive Collection mit Stephen Fry

Stephen Fry liest Sherlock Holmes – zwei der britischsten Ikonen glücklich vereint! – was könnte es Schöneres geben für jeden Fan der britischen Popkultur, von Sherlockians ganz zu schweigen?! Das Beste an diesem Bündnis ist: Stephen Fry ist nicht nur ein grandioser Schauspieler und Autor, sondern auch erklärter Sherlock-Holmes-Fanatiker. Die Definitive Collection der Sherlock-Holmes-Geschichten, von Audible produziert, glänzt daher nicht nur mit brillant performter Literatur. Stephen Fry stellt auch jedem Holmes-Sammelband und jedem Holmes-Roman ein persönliches Vorwort voran. Dort erklärt er mal witzig, mal feierlich, seine lebenslange Liebe an die Welt von Sherlock Holmes. Ein ganz besonderes Extra, das ich jedem auch nur entfernt Holmes-Interessierten wärmstens ans Herz legen kann – die Lesung der Geschichten sowieso.

In seinen Vorworten erklärt Fry aus seiner Sicht z.B. die popkulturelle Bedeutung von Sherlock Holmes und warum er als Vorvater der amerikanischen Superhelden gesehen werden kann (vgl. Vorwort 1 zu A Study in Scarlet). Fry fasst gewohnt eloquent und eindringlich zusammen, warum Sherlock Holmes als fiktive Figur bis heute so beliebt ist:

„Time and time again, generations have shown that they need Holmes. Something of his assured blend of omniscience and infinite tenacity, humanized with intriguing character flaws, speaks deeply to our need of solution to the problems of our own, very different world today.“ Entschuldigt, dass ich emotional werde, aber so treffend formuliert habe ich den Kern der sherlockianischen Begeisterung selten gehört.

sherlock holmes stephen fry hörbuch

Anrührend und lustig sind auch Frys Reminiszenzen an seine eigene Sherlock-Holmes-Begeisterung, die schon in seiner Kindheit ihren Anfang nahm. Mit 8 Jahren trat er in die Sherlock Holmes Society ein und studierte von da an mit regelrechter Besessenheit alles Sherlockianische, dessen er habhaft werden konnte. Wer Stephen Frys Autobiographien gelesen hat, weiß, dass er eine ziemlich problematische Jugend hatte. Mit 17 landete er im Gefängnis wegen Kreditkartenbetrugs. Aber Fry erzählt, dass er es Sherlock Holmes zu verdanken habe, dass er in ruhigeres Fahrwasser zurückfand und z.B. das nötige Durchhaltevermögen aufbrachte, um einen Studienabschluss zu machen: „It would not be poltering with the truth for me to say that Sherlock Holmes changed my life. … I fully believe that it was the grounding in research and scholarship, however strange and specialised, and the love of reading, that the Sherlockian canon inculcated in me, that allowed me to escape the wilder entanglements of my troubled adolescence.“

Das klingt doch wunderbar! Worauf wartet ihr noch?


Welche Hörspiele, Comics oder andere Medien zum Meisterdetektiv könnt ihr empfehlen? Seid ihr anderer Meinung als ich und könnt z.B. mit den Maritim-Hörspielen gar nichts anfangen? Kommentiert oder schreibt euren eigenen #bakerstreetblogs-Artikel, wir freuen uns!

Die Empfehlungen noch einmal im Überblick:

Hörspiele:

Arthur Conan Doyle: Sherlock Holmes, Hörspielreihe in 65 Folgen, Maritim-Verlag 2004-2011.

Sherlock und Watson. Neues aus der Baker Street, Hörspielreihe nach Motiven von Arthur Conan Doyle von Viviane Koppelmann in 5 Folgen, Der Audio Verlag 2015-2016.

Graphic Novel:

Brunschwig/Cécil: Holmes (1854/† 1891?), Graphic Novel-Reihe in 3 Teilen, übersetzt von Edmund Jacoby, Jacoby & Stuart 2015.

Hörbuch:

Arthur Conan Doyle: Sherlock Holmes. The Definitive Collection, gelesen von Stephen Fry, Audible 2017.

Wenn ihr auch mal Lust auf interaktives Rätsellösen habt, klickt gleich rüber zu Karos Artikel rund um sherlockianische Spiele und Apps! Viel Spaß dabei!

Achtung, Achtung: Die #bakerstreetblogs gibt’s jetzt auch als Hörbuch vom Maritim-Verlag!

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10 Kommentare

  1. ComiChaot 16. Juli 2022

    Wow was für toller und langer Artikel. Bin überhaupt kein Hörspielfan aber die Holmes Graphic Novels liebe ich sehr. Alle 4 bände sind großartig

    Antworten
    1. Sabine 11. September 2022

      Danke fürs Lob und fürs Lesen 😉

      Antworten
  2. Chrissi 6. Mai 2019

    Hallo Sabine,

    vielen Dank für den tollen Beitrag.
    Gerade mit Begeisterung festgestellt dass man auf Spotify „Die Sherlock Holmes Chronicles“ und „Sherlock & Watson“ hören kann 🙂

    Habe erst vor kurzem eine Sherlock Holmes Graphic Novel aus dem Splitter Verlag gelesen. Sie hat mir leider nicht so gut gefallen. Deswegen habe ich mir die von Jacoby und Stuart jetzt mal gut notiert!

    Liebe Grüße
    Chrissi

    Antworten
    1. Sabine 7. Mai 2019

      Danke dir fürs Lob!
      Auf Spotify gibt’s ca. 10 verschiedene SH-Hörspielreihen, auch in Englisch, da hat man ne Weile was zu tun 😉
      Ja beim Splitter Verlag gibt’s viel Abgedrehtes mit Sherlock Holmes kämpft gegen Zombies, oder? Wenn man drauf steht, super, aber ist nicht so mein Fall. Es kommt bei mir allgemein auch total auf den Zeichenstil an, dass ich dran bleibe. Ich mag keine zu „kindlichen“ Zeichnungen (siehe die SH-Comics vom Piredda Verlag).
      Viel Spaß mit der Graphic Novel!
      LG Sabine

      Antworten
      1. Chrissi 7. Mai 2019

        Ja. Genau das war mit der Splitter Verlag GN auch mein Problem. Mir war es zu abgedreht. Hätte mir der Titel vielleicht auch sagen können, aber mit hat der Zeichenstil an sich sehr gut gefallen.
        Liebe Grüße

        Antworten
  3. Sabrina 6. Mai 2019

    Liebe Sabine,

    eine sehr interessante Zusammenstellung! Ich kannte bisher noch keine Hörspiele oder Graphic Novels mit Holmes. Du hast mich auf „Neues aus der Baker Street “ so neugierig gemacht, dass ich sofort reinhören musste.

    Liebe Grüße
    Sabrina

    Antworten
    1. Sabine 7. Mai 2019

      Hehe, mission accomplished! Viel Spaß!

      Antworten
  4. ninakol. 5. Mai 2019

    Hi. Sherlock und Watson hat mir auch sehr gut gefallen. Bei den Comics ist es immer sehr schwierig, finde ich. Manchmal fängt eine Reihe gut an, dann wird der nächste Band schon enttäuschend und der 3. nicht mehr gekauft. Auch div. Hörspiel haben sehr unterschiedliche Qualität. Danke für die Infos. Den S. Fry werde ich mir holen bei Gelegenheit!
    Liebe Grüße
    Nina

    Antworten
    1. Sabine 5. Mai 2019

      Hi Nina,
      da geb ich dir völlig Recht, viele Hörspiele sind so zum „Weg-Konsumieren“ und bleiben nicht wirklich in Erinnerung, an guten Drehbüchern mangelt es oft. Da bin ich immer wieder froh, wenn ich zwischendrin ein Juwel entdecke 😉 Kennst du auch die englischen Hörspiele vom Verlag Big Finish, z.B. „Holmes and the Ripper“? Ziemlich gruselig, aber echt gut!
      LG Sabine

      Antworten

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